So weit der Wind uns trägt
ganz vollen Müllbeutel. Wahrscheinlich hatte es den halben Abend hinter dem Türspion verbracht und genau auf diesen Moment gewartet.
»Olá, Cristiano.«
»Olá, Vanessa.«
»Ich bringe gerade den Müll runter«, sagte Vanessa törichterweise.
»Ach was? Na dann, schönen Abend noch. Und meine besten Grüße an Dona Carolina.« Er zog die Tür zu, drehte den Schlüssel doppelt um, und zwar so vehement, dass das Mädchen es hören musste, und atmete erleichtert auf. Er horchte auf Geräusche aus dem Treppenhaus, hörte jedoch nichts. Bestimmt stand seine Verehrerin noch immer vor der Tür und lauschte. Cristiano konnte es sich einfach nicht verkneifen: Er ging in das winzige Duschbad, das gleich neben der Wohnungstür lag, hob den Toilettendeckel so schwungvoll hoch, dass er gegen die Wand polterte, und entleerte dann seine Blase mit absichtlich lautem Plätschern. Er betätigte die Spülung, bevor er wieder in den Flur trat, vorsichtig durch den Spion lugte, Vanessa genau dort sah, wo er sie zu sehen erwartet hatte, und unvermittelt einige Takte aus »Let it be« zu trällern begann.
Dann ging er in den Wohn-Ess-Schlafraum seiner kleinen Behausung, legte eine Platte von den Grateful Dead auf und drehte die Lautstärke hoch. Das tat er nicht etwa, weil er so gern laute Musik gehört hätte, und auch nicht, um seine Nachbarn zu ärgern. Er tat es ausschließlich deshalb, weil er die Fernsehgeräusche von nebenan übertönen musste. Vanessas Mutter, Dona Carolina, sah sich von morgens bis abends Schund an. Und damit ihr, wenn sie etwa im Bad oder in der Küche war, auch ja keine Sekunde von »Die Sklavin Isaura« oder einer der anderen brasilianischen Telenovelas entging, die Portugal so emsig importierte, hatte sie es sich angewöhnt, das TV -Gerät konstant auf Brüllniveau eingestellt zu lassen.
Cristiano warf sich auf sein Sofa, das er nachts zum Bett umfunktionieren konnte. Er erschrak, als er hart landete. Tja, das war eben nicht »Elda«. Überhaupt war hier nichts wie bei Marisa. Seine Einzimmerwohnung war dunkel und muffig, mit Ramsch möbliert und noch dazu vollkommen verdreckt. In der Kochnische stapelten sich gebrauchte Tassen. Teller standen nur deswegen keine in dem altmodischen, steinernen Spülbecken, weil er es seit Wochen vermieden hatte, daheim zu essen. Wofür hatte man Freunde? Von seinem Platz auf dem unbequemen Sofa fiel sein Blick auf seinen Schreibtisch. Auch er quoll über vor unerledigter Arbeit. Die Bücher, die er sich im ersten Moment der Euphorie ausgeliehen hatte, lagen ungelesen herum. Als er mit seinem Professor das Thema der Doktorarbeit besprochen hatte, war Cristiano noch voller Tatendrang gewesen. Jetzt erschien es ihm absurd, sich mit der »Applikabilität der Kybernetik in der Soziologie« beschäftigen zu sollen. Viel mehr interessierte ihn die Erfindung und Anwendbarkeit einer unfehlbaren Methode, Marisa zurückzugewinnen.
Vielleicht war er zu weit gegangen. Er als Soziologe – mit Psychologie im Nebenfach – hätte die Macht ihrer Bedürfnisse besser einschätzen können sollen. Er hätte erkennen müssen, dass sie sich nicht ohne weiteres von ihrem großbürgerlichen Gehabe lösen würde, dass ihr sozialer Hintergrund zu charakterbildend gewesen war. Aber, sagte er sich zu seiner eigenen Rechtfertigung, sie war es doch gewesen, die hatte wissen wollen, wie es bei normalen Leuten zugeht! Die ihre Herkunft verleugnet hatte, um sich in einem studentischen Milieu, das zunehmend von kommunistischen Tendenzen geprägt war, Anerkennung zu verschaffen. Nun, jetzt wusste sie es. Und er, Cristiano, wusste, dass diese Frau niemals Bescheidenheit erlernen würde. Sie würde ihre individuellen Wünsche immer über die Erfordernisse kollektiven Strebens stellen. Sie war schlicht und ergreifend eine verwöhnte Bürgerstochter.
Und er liebte sie dafür. Er fand es herrlich, mit welcher Inbrunst sie sich für flotte Autos und mondäne Skigebiete interessierte. Es gefiel ihm, dass sie ihren Geschmack – beim Essen, bei Klamotten, in der Kunst oder in der Musik – mit Überzeugung und Arroganz vertrat, als wäre es ihr niemals in den Sinn gekommen, andere Leute hätten ein Recht auf einen anderen Geschmack. Insgeheim beneidete Cristiano sie um diese Selbstsicherheit, wie sie nur Kinder reicher Leute entwickeln können. Und irgendwie hatte es ihm auch leidgetan, dass sie genau diese Überheblichkeit verborgen hatte, um sich ihm, einem armen Maurersohn, anzupassen. Tja, aber ihre
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