So weit der Wind uns trägt
Natur hatte sich schließlich durchgesetzt. Cristiano wusste nicht, ob er Marisa dafür noch mehr lieben oder sie verabscheuen sollte – denn diese neue Selbstbehauptung beinhaltete leider, dass er an ihrem Leben nicht mehr würde teilhaben können.
Von nebenan hörte er in ohrenbetäubender Lautstärke die Beatles. »Abbey Road« war das derzeitige Lieblingsalbum der nervtötenden Vanessa. Dann brüllte ihr Vater etwas, daraufhin mischte Dona Carolina sich lautstark ein, der Fernseher wurde aufgedreht, und dann klopfte noch von oben jemand mit dem Besenstiel auf den Boden, als sei er, Cristiano, der Verursacher des ganzen Theaters. Es war nicht auszuhalten. Cristiano beschloss, doch noch auszugehen. Bei José könnte er um diese Zeit aufkreuzen, ohne sich unbequemen Fragen auszusetzen – und bei dem würde er auch was zu trinken kriegen. Lieber hörte er sich Josés klassenkämpferisches Geschwafel an als das Gezeter seiner Nachbarn.
Cristiano betrachtete sich kurz in dem halb blinden Spiegel über dem Waschbecken und stellte deprimiert fest, dass seine Augen aussahen wie die von Paul McCartney, auf den nur naive kleine Mädchen standen, während alle vernünftigen Frauen, wenn schon auf einen Beatle, dann auf John Lennon flogen. Er entschied, heute seine runde Nickelbrille aufzusetzen. Nicht unbedingt, um Lennon ähnlicher zu sehen, sondern vielmehr, um José davon zu überzeugen, heute Nacht seine Biervorräte mit ihm zu teilen. Beinahe lautlos schloss er die Wohnungstür hinter sich. Diesmal war die Vorsicht überflüssig – die Familie Nogueira schrie sich noch immer an.
»Zum Wohl.«
»Auf unser Wiedersehen.«
»Das dritte.«
Sie stießen feierlich an und erzeugten mit den langstieligen Gläsern einen hellen Klang. Der Chablis schmeckte Marisa ausgezeichnet, viel besser als der billige, saure Landwein, den sie in den letzten beiden Jahren hatte trinken müssen. Ricardo dagegen war der Geschmack des Weines egal. Es hätte in diesem Moment auch Spiritus in den Gläsern sein können. Hauptsache, sie saßen hier zusammen in der samtigen Luft der Sommernacht, sahen einander über die flackernde Kerze hinweg in die Augen und genossen das romantische Rendezvous. Nachdem sie sich bereits zweimal in einfachen Lokalen getroffen hatten, war dies nun ihr erstes Treffen in eleganterem Rahmen. Und ihr vorerst letztes: Morgen musste Ricardo zurück nach Belo Horizonte.
Es war lange her, dass er sich in Gesellschaft einer Frau so wohl gefühlt hatte. Zuletzt war das bei Helen der Fall gewesen, in die er sich Hals über Kopf verliebt hatte, weil sie so unamerikanisch ausgesehen hatte. Sie stammte von mexikanischen Einwanderern ab, sah wunderhübsch aus mit ihrem Schmollmund sowie den riesigen dunklen Augen und war sehr temperamentvoll. So sehr, dass sie ihm eine Platzwunde an der Stirn zugefügt hatte, als sie in ihrer rasenden Eifersucht eine Nachttischlampe nach ihm geworfen hatte. Dabei war er ihr gar nicht untreu gewesen. Sie hatte ihm das nie geglaubt, und als er sich wenig später von ihr trennte, sah sie all ihre Verdächtigungen bestätigt.
Davor hatte er eine kurze Liaison mit einem Mädchen afroamerikanischer Abstammung gehabt, Joyce. Sie hatte ihn mit ihrer weichen Haut und der warmen Stimme an die Frauen in Angola erinnert, obwohl sie viel hellhäutiger als diese war und ihre Lippen und ihre Nase deutlich schmaler waren als bei den Afrikanerinnen. Sie war ausnehmend schön gewesen, mit ihren knapp 1 , 80 Metern ungefähr so groß wie er und obendrein klug. Sie hatte Medizin studiert, und ihr einziger Makel, der letztlich auch zur Trennung geführt hatte, war gewesen, dass sie in jeder unbedachten Geste, in jeder kritischen Bemerkung und in jedem fragenden Blick rassistische Gründe vermutet hatte. Irgendwann war es Ricardo zu aufreibend geworden, Joyce zu erklären, dass er durchaus kein Rassist sei, nur weil seine Hautfarbe heller war als ihre, sondern dass er im Gegenteil die Vermutung hege, sie sei in Wahrheit die Rassistin.
Jetzt also saß er hier mit Marisa, mit der ihn allein aufgrund der Nationalität einiges verband – und von der ihn so unendlich viel mehr trennte. Seine lange Abwesenheit war noch das Geringste davon. Gegensätzlicher, dachte er, hätten sie beide kaum sein können: ihre offensichtlich linksliberale Gesinnung und seine grundkapitalistischen Erfolgsziele; ihr behütetes Aufwachsen in einem harmonischen Elternhaus und seine verkorkste Kindheit und Jugend; ihre
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