So weit der Wind uns trägt
schöngeistigen Interessen und seine Vorliebe für Technik und Naturwissenschaften – das alles passte nicht zusammen. Dennoch wurde Ricardo das Gefühl nicht los, dass alles sehr wohl zusammenpasste, sich perfekt zusammenfügen würde, sie sich ideal ergänzten. Wäre ihm nicht alles Übersinnliche und jede Schicksalsgläubigkeit fremd gewesen, hätte er wohl gedacht, dass Marisa für ihn vorherbestimmt war. So jedoch wusste er nur, dass er sich erneut in sie verliebt hatte.
Marisa betrachtete Ricardos Mienenspiel aufmerksam. Am liebsten hätte sie ihn gefragt: »Was denkst du gerade?« Aber sie wusste, dass es auf diese Frage keine ehrliche Antwort geben konnte, weil kein Mensch die unzähligen Gedankensplitter, die zu jedem Zeitpunkt in seinem Kopf herumschwirrten, beim Namen nennen konnte. Und das, was sie gern gehört hätte, würde Ricardo vermutlich ohnehin nicht so schnell über die Lippen kommen: dass er sie hinreißend fand, dass er seine Empfindungen für sie wiederentdeckt hatte, dass er damals lange gebraucht hatte, um über seine verletzten Gefühle hinwegzukommen, dass er ihr längst verziehen hatte und dass er sich wünschte, noch einmal von vorn anfangen zu können.
»Weißt du schon, was du nimmst?«, fragte er stattdessen.
»Ja, den gegrillten Wolfsbarsch. Und du?«
»Den nehme ich auch.« Es war eines der teuersten Gerichte auf der Karte. Auf keinen Fall wollte Ricardo sich anmerken lassen, dass er aufs Geld achten musste. Arm war er zwar nicht, aber von seinem angestrebten Reichtum war er noch weit entfernt. Sein Projekt, das gut vorankam, verschlang astronomische Summen. Er hatte immer von einer schönen, asphaltierten Landebahn geträumt, aber deren Realisierung musste erst einmal warten. Die Rasenpiste tat es ja auch – und die allein war schon aufwendig gewesen.
»Du wirkst ein bisschen … bedrückt«, bemerkte Marisa.
»Es ist nichts. Ich habe nur ziemlichen Ärger mit einem verbohrten alten Mann, der meine Pläne sabotiert, aus schierer Starrsinnigkeit, wie es mir scheint.« Er hob sein Glas, sah sie darüber hinweg an und sagte: »Lass uns über etwas Schöneres reden. Über dich zum Beispiel.«
Marisa lächelte ihn schweigend an. Wie lange war es her, dass sie ein Kompliment gehört hatte? Es verlangte sie nach mehr, sie lechzte förmlich danach, mit Nettigkeiten überhäuft zu werden – aber
fishing for compliments
war ihrer nicht würdig. Das, hätte ihre Großmutter gesagt – die zwar des Englischen nicht mächtig war, aber sehr wohl das damit bezeichnete Verhalten kannte –, taten nur Mädchen, die es nötig hatten. Marisa vermisste ihre Großmutter plötzlich, ihre weisen Ratschläge. Was hätte die alte Dame ihr in einer Situation wie dieser empfohlen? Sich abwartend zu verhalten? Sich kühl zu geben? Durch Unnahbarkeit die Jagdinstinkte des Mannes zu wecken? Vielleicht wäre das gar nicht so dumm. Andererseits, fand Marisa, musste sie Ricardo schon von sich aus ein Stück entgegenkommen – ohne ein Signal ihrerseits, dass ihr Interesse an ihm keineswegs erloschen war, würde er nie aus sich herausgehen, würde sie nie mehr von ihm bekommen als ein Kompliment über ihr Aussehen.
»Ach, ich bin nicht gerade ein ergiebiges Thema«, antwortete sie nun. »Ich habe dir ja das meiste aus meinem unaufregenden Leben schon erzählt.«
»Das Spannendste hast du ausgelassen.«
»Als da wäre?« Sie ahnte, worauf er hinauswollte.
Und er wusste, dass sie es ahnte. Er nahm einen Schluck von seinem Wein und sah sie durchdringend an, ohne ein Wort zu sagen.
Marisa fühlte sich unter diesem Blick unbehaglich. Der Mann hatte die beunruhigende Fähigkeit, ihr den Eindruck zu vermitteln, er durchschaue sie genau. Sie hatte nicht vor, ihn glauben zu lassen, dass dem auch wirklich so sei.
»Ich fürchte, ich muss dich enttäuschen. Mit einem so abenteuerlichen Werdegang wie du kann ich nicht aufwarten. Aber erzähl, wie ist das mit diesem Alten, mit dem du dich herumschlägst? Eine alte Familienfehde? Ah, ich liebe solche Geschichten!«
Obrigada, avó – danke, Oma
. Das, so hatte ihre Großmutter sie gelehrt, war auch so etwas, womit die Männer sich in null Komma nichts um den Finger wickeln ließen: Man brauchte ihnen nur ein paar alberne Fragen über ihre persönlichen Belange zu stellen. Es gab keinen Mann, der nicht gern über sich selbst redete.
»Warum lenkst du ab?«
»Tue ich doch gar nicht.«
Ricardo gab sich einen Ruck. Es brachte ja nichts, andauernd um den
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