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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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ihn, sofern sie das je gewesen war – sondern er würde sie plötzlich als jemanden sehen, der Ähnliches erlebt hatte wie seine Eltern. Jesus Christus! Das fehlte gerade noch, dass er in ihr mütterliche Qualitäten entdeckte. Es war schon schlimm genug gewesen, dass er ihrem allzu erwachsenen Sohn begegnet war.
    Laura schmiegte sich an João Carlos und malte sich aus, wie es wäre, dreißig Jahre später zur Welt gekommen zu sein. Dann wäre sie jetzt Mitte zwanzig, hätte ihr ganzes Leben noch vor sich und wäre in jeder Hinsicht, insbesondere in sexueller, freier, als es die Frauen ihrer Generation je hatten sein dürfen. Die Pille hatte den Frauen Freiheit geschenkt. Ein Medikament, ein blödes Hormonpräparat, dachte Laura, hatte mit der jahrtausendealten Unterwerfung aufgeräumt. Kurz fragte sie sich, was das langfristig für Auswirkungen auf die fragilen Seelen der Männer haben mochte. Es würde ihnen nicht gefallen, dass die Frauen ab sofort schon vor der Ehe reichlich Erfahrungen sammeln und Vergleiche anstellen konnten, ohne dass jedes Mal das Damoklesschwert einer unerwünschten Schwangerschaft über ihnen hing.
    Eines Tages wären die Frauen so gleichberechtigt, dass sie sich jüngere Liebhaber nehmen durften, ohne dafür schief angesehen zu werden – oder sogar solche, die einen niedrigeren sozialen Status hatten als sie selber. Bislang war es doch so, dass sich an einem erfolgreichen Mann, der sich mit seiner Sekretärin paarte, kein Mensch störte, während man bei einer erfolgreichen Frau, die etwas mit dem Gärtner hatte, gleich unkte, sie würde sich an einen Habenichts »wegwerfen«. Was für eine himmelschreiende Ungerechtigkeit! Aber eines Tages, eines fernen Tages vermutlich, wären auch die Frauen frei. Es würde schätzungsweise länger dauern, als die Diktatur in Portugal noch Bestand hatte.
    Immerhin durfte man heute schon mehr oder minder ungestraft in der Öffentlichkeit auf die Freiheit anstoßen. Vor genau zehn Jahren, 1961 , waren zwei portugiesische Studenten, die genau das in einem Lissabonner Restaurant getan hatten, zu einer siebenjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Aus diesem furchtbaren Vorfall, der in Europa für Aufsehen gesorgt hatte, war »Amnesty International« entstanden. Ein Engländer hatte sich mehr für die demokratischen Rechte der inhaftierten Studenten eingesetzt als irgendein Portugiese. Bald, davon war Laura überzeugt, wäre auch der Estado Novo, ihr seit nunmehr fast vierzig Jahren bestehendes totalitäres Regime, Geschichte. Die Zeichen für ein Umdenken in weiten Teilen der Bevölkerung mehrten sich. Sie würden alle gemeinsam auf die Freiheit anstoßen und wie aus einer Kehle »Liberdade já!« rufen – das ganze Land konnte man ja schlecht verhaften.
    »Was ist mit dir?«, hörte sie João Carlos flüstern.
    »Ich wäre gern dreißig Jahre jünger«, platzte sie heraus, ohne nachzudenken.
    »Du gefällst mir so, wie du bist. Wer will schon ein dummes, unerfahrenes Mädchen, das sich ziert und geniert?«
    Ah, er verstand gar nichts! Ihre paar Falten waren ihr relativ gleichgültig, und eigentlich war es auch ein Segen, dass die monatliche Erinnerung an die reproduktive Funktion ihres Körpers endlich aufgehört hatte. Ihr Haar färbte sie, ihre Figur war dank täglicher Gymnastik schlank und geschmeidig, und sie war wesentlich ausgeglichener als in jüngeren Jahren. Das mochte natürlich auch an den Zärtlichkeiten liegen, die João Carlos ihr genau in diesem Augenblick wieder schenkte. Laura schloss die Augen und gab sich seinen Liebkosungen mit Wonne hin.
     
    Hinterher war man immer schlauer.
    Hätte sie vorher gewusst, wie das Wiedersehen mit Jakob, mit
Jack
, korrigierte sie sich, verlaufen würde, hätte Laura es wahrscheinlich gar nicht erst stattfinden lassen. Sie hätte sich dann wenigstens noch die Erinnerung an einen jungen, frechen, furchtlosen, klugen und sinnlichen Mann bewahren können, der sich anschickte, die Welt zu erobern. So aber überdeckte die Gegenwart dieses schöne Bild, das sie sich bewahrt hatte. Ein alter Mann stand ihr gegenüber. Ein unansehnlicher Kauz mit Halbglatze, einem zu großen falschen Gebiss und einem zu breiten falschen Lächeln. Begleitet wurde er von Elsa, einer alten Frau im Rollstuhl, die verbittert aussah und sich nicht einmal die Mühe machte, ihr Haar zu färben. Sie konnte nicht viel älter sein als sie selber, aber man hätte sie für ihre Mutter halten können. Nein, nicht einmal das, dachte

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