So weit der Wind uns trägt
Besäufnis verschwunden, und zurück blieb nur die Frage, wieso man mit diesen Leuten Vertrautheit gespielt hatte. Die große Ernüchterung.
João Carlos wirkte wie jemand, der gerade aus dem Kino kam, wo er die Verfilmung seines Lieblingsbuchs gesehen hatte – in der die Figuren, die er während der Lektüre ins Herz geschlossen hatte, miserabel besetzt worden waren.
Und genau wie jemand, der sich über einen Film und seine Darsteller aufregt, hatte auch Laura das Bedürfnis, den Abend auseinanderzupflücken. Aber sie kam nicht weit.
»Diese Elsa hatte ich mir anders vorgestellt«, begann sie. Sie hätte in ihrer aktuellen Laune stundenlang über diese Person herziehen können. João Carlos war der ideale Lästerpartner, und sie hoffte, dass er den nächsten Schritt in diese Richtung tat. Das Gegenteil traf ein.
»Sei ein bisschen großzügiger. Sie stirbt. Sie will noch einmal alle ihre Verwandten und Beinahe-Verwandten sehen, bevor sie sich in Frieden – und in dem Wissen, dass alles Leben weitergeht – verabschieden kann.«
Laura sah ihn ungläubig an. Himmel noch mal, wie konnte ein junger Mensch von einundvierzig Jahren so weise sein? So verdammt gütig? Und dazu so sexy? Ihr war ein wenig schwindelig. Sie war ziemlich betrunken. Und sie hatte auf einmal nicht mehr die geringste Lust, über eine todkranke Frau zu reden.
»Komm her, du Heiliger – und mach ein paar ganz unheilige Sachen mit mir.«
51
M arisa saß mit angezogenen Beinen in ihrem »Elda«-Sessel und sah fern. Es lief eine uralte Folge von
Flammen der Leidenschaft
, einer Miniserie, die sie schon bei ihrer Erstausstrahlung als unzumutbar empfunden hatte – und da war sie gerade zwanzig und nicht eben kritisch gewesen. Jetzt kam ihr die Sendung noch idiotischer vor, und nur der wirklich sensationell hübsche, mittlerweile in Vergessenheit geratene Schauspieler Ronaldo Silva machte das Ganze erträglich. Marisa meinte sich vage entsinnen zu können, dass es um diesen Schönling vor ein paar Jahren einen Skandal gegeben hatte, woraufhin er unter mysteriösen Umständen aus Portugal verschwunden war. Ach, war ja auch schnuppe, ob der Typ schwul war oder nicht – solange er in
Flammen der Leidenschaft
gut aussah.
Auf einem Tischchen standen Ritz-Cracker, Schokobohnen und Coca-Cola. Marisa griff blind in die Schachtel mit den Crackern und schob sich mehrere auf einmal in den Mund, ohne den Blick von dem Fernsehgerät abzuwenden. Gleich musste die Szene kommen, in der der Held – der schmucke Ronaldo – seine Angebetete vom Altar weg aus den Klauen eines widerwärtigen Lustmolchs raubte. Herrlich! Warum passierte so etwas nie im wahren Leben? Weil, rief sie sich zur Vernunft, keine normale Frau in die Verlegenheit kam, von ihrem Vater um der Politik willen an einen widerwärtigen Lustmolch verschachert zu werden. So etwas kam nur in Königshäusern vor, oder besser: war vorgekommen. Marisa bezweifelte, dass die Prinzessinnen von heute das mit sich machen ließen.
Und wo kein Unhold war, bedurfte es auch keiner Rettung, so einfach war das. Die potenziellen Helden hatten heutzutage keine Gelegenheit mehr, ihre Kühnheit mannhaft unter Beweis zu stellen. Marisa griff zu den Schokobohnen und kaute gedankenverloren darauf herum, als das Telefon klingelte.
Mitten in der dramatischsten Szene! Pah, sollte es doch weiter klingeln. Marisa mochte nicht abnehmen. Erstens stand der Apparat zu weit weg, sie hätte sich also aus ihrem gemütlichen Sessel hochrappeln müssen, und zweitens war sowieso bestimmt nur wieder Cristiano dran. Wie konnte man bloß so wenig Stolz haben? Er terrorisierte sie seit Monaten mit Anrufen, lauerte ihr vor dem Haus auf, verfolgte sie und spionierte ihr nach. Es war ekelhaft. Er benahm sich genau so wie das Nachbarsmädchen, über dessen Annäherungsversuche er sich immer lustig gemacht hatte. Und anders als bei dem Mädchen konnte man bei Cristiano noch nicht einmal sein Alter als Entschuldigung heranziehen – er war schließlich kein Teenager mehr.
Nun ja, ganz unschuldig an der Situation war sie selber auch nicht. Nach dem ersten Bruch, der jetzt schon gut anderthalb Jahre zurücklag, war sie zu inkonsequent gewesen. Sie hatte sich immer wieder mit Cristiano getroffen – und war jedes Mal mit ihm im Bett gelandet. Aber verdammt noch mal, war sie eine Nonne oder was? Man konnte doch nicht ernsthaft von einer Frau von nunmehr fast dreißig Jahren verlangen, dass sie, nur weil sie keinen festen Freund
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