So weit der Wind uns trägt
Schamgefühl?
Doch es sollte noch schlimmer kommen. Nachdem Cláudia festgestellt hatte, dass die Diagnose ihres Schwiegervaters stimmte, begann sie, auf einem ausgebreiteten Handtuch dem Kind die Windel abzunehmen. Dann trug sie das Baby zum Wasser und wusch ihm darin den Popo ab. Die volle Windel, eines von diesen neumodischen Wegwerfdingern, entsorgte sie in einem Mülleimer. Paulo sah diesem unsäglichen Geschehen sprachlos zu.
Er schwor sich, nie wieder an einem öffentlichen Strand zu baden.
Seit Dona Aldora halbtags in seiner Flugschule arbeitete, war Ricardos anfängliche Euphorie zurückgekehrt. Endlich hatte er wieder Zeit, sich mehr um die Dinge zu kümmern, die ihm am Herzen lagen. Mit Behördenkram, Steuererklärungen, Buchhaltung sowie der Instandhaltung der Räumlichkeiten schlug Dona Aldora sich nun herum – und das mit Feuereifer. Diese Frau war ein echter Glücksgriff gewesen. Sie war intelligent, fleißig und penibel. Sie hatte sich, obwohl sie keine ausgebildete Sekretärin war und nur über Grundkenntnisse im Maschinenschreiben und in der Buchführung verfügte, in Windeseile eingearbeitet und erledigte alle ihr übertragenen Aufgaben mit der ihr eigenen Gründlichkeit. Sie benötigte vielleicht zwei Minuten länger als eine qualifiziertere Kraft, um einen Brief zu tippen, dafür brauchte sie ihn aber auch nicht neu zu schreiben, weil er fehlerhaft gewesen wäre. Dona Aldora machte keine Fehler. Schon nach kurzer Zeit hatte Ricardo nicht mehr jedes Schriftstück genauestens durchgelesen, sondern es nach kurzem Überfliegen unterschrieben. Er vertraute ihr bedingungslos. Nicht nur in Sachen Rechtschreibung.
Dona Aldora hatte vor niemandem Angst, sie ließ sich von niemandem täuschen, und sie war absolut unbestechlich. Es machte ihr Freude, sich mit Behörden anzulegen, und viele Beamte, die sie noch von früher kannten und von ihr in der Bibliothek geschurigelt worden waren, kuschten vor ihr. Die resolute Dame blühte auf bei ihrer neuen Arbeit. Sie war siebenundsechzig Jahre alt, war aber, geistig wie körperlich, flink wie eine Vierzigjährige. Sie hatte sogar begonnen, sich selber ein wenig in die Grundlagen der Fliegerei einzuarbeiten – um zu verstehen, was um sie herum vorging. Sie wollte etwa die sinnvollen Auflagen seitens der Flugaufsicht von unnötigen Schikanen unterscheiden können, und sie wollte außerdem nicht unwissender sein als die draufgängerischen Tölpel, die bei Ricardo da Costa Flugstunden nahmen. Die meisten davon kannte sie. Wenn die in der Lage waren, die Gesetze der Aerodynamik zu verstehen, dann wollte sie einen Besen fressen, wenn sie es nicht war.
In ein Flugzeug dagegen würde sie sich nie wieder im Leben setzen. Der Junge – so nannte sie ihren Arbeitgeber bei sich – hatte sie einmal mitgenommen, das reichte ihr. Die Propeller hatten laut gedröhnt und das Flugzeug zum Vibrieren gebracht, und in der Luft waren sie dann zwischen dicken Wolken herumgeholpert, dass es einem ganz anders davon werden konnte. »Thermik«, hatte der Junge ihr erklärt, der, so vermutete Dona Aldora, insgeheim froh über die Turbulenzen war. Er hatte ein glückliches Gesicht gemacht. Nein – sosehr sie sich auch darüber freute, dass Ricardo da Costa seine Berufung gefunden hatte, so wenig würde sie jemals die Begeisterung für das Fliegen teilen.
Dabei wusste Dona Aldora nicht einmal, was Ricardo ihr alles erspart hatte. Er war mit niemandem je so sanft geflogen. Bei der Erinnerung an das versteinerte Gesicht der ältlichen Dame musste Ricardo noch immer in sich hineinlachen. Sie hatte Mumm bewiesen, das musste man ihr lassen. Sie hatte nicht geschrien, nicht gezittert, sich nicht am Sitz festgeklammert oder sonst irgendwie zu erkennen gegeben, dass sie sich fürchtete. Sie hatte es sogar fertig gebracht, mit fester Stimme nach den Instrumenten und ihrer Bedeutung zu fragen. Sie hatte seinen Erklärungen aufmerksam gelauscht, und Ricardo war überzeugt, dass sie wesentlich genauer zuhörte als seine Schüler, die fast alle nur riskante Manöver fliegen wollten.
Das Erscheinungsbild seiner Flugschule war nun insgesamt viel seriöser, auch das ein Verdienst von Dona Aldora, die es zu ihren ersten Aufgaben gemacht hatte, die Putzfrau für ihre Schlamperei zu beschimpfen und sich selber einen improvisierten Empfangstresen zu bauen, hinter dem sie nun saß wie einst an der Theke der Bibliothek. Jeder, der zum ersten Mal hierherkam und Dona Aldora sah, erstarb
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