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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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den Isabel ihr in den düstersten Farben geschildert hatte, fand Jujú erträglich. Doch den seelischen Schmerz empfand sie umso intensiver. Wieso hatte Rui sich und ihr nicht mehr Zeit gelassen? Warum war er auf einmal so grob gewesen, so unbeherrscht? Gerade er, der sich doch sonst so viel auf seine Kaltblütigkeit einbildete? Und warum hatte sie sich nicht gewehrt? In dem Moment, als ihre Lust der Verblüffung über Ruis Verwandlung gewichen war, hätte sie ihn sofort bremsen müssen. Doch sie hatte stumm alles über sich ergehen lassen – und fühlte sich auch noch schuldig.
    »Lass uns zurückgehen. Die vermissen uns sicher schon.« Rui klang sehr geschäftsmäßig. Sein Ton ärgerte Jujú, doch er half ihr auch, schnell wieder in die Gegenwart zurückzukehren.
    »Geh du schon vor. Ich komme nach.« Sie musste sich erst fangen. Außerdem wollte sie sich, bevor sie sich den wissenden Blicken der Gäste stellte, noch zurechtmachen. Umziehen konnte sie sich nicht, das würde auffallen. Aber sie wollte ihr Haar kämmen, sich waschen, frische Wäsche anziehen.
    Oh Gott, hatten sie etwa verräterische Spuren auf den heiligen Sitzen des Automobils hinterlassen? In der Dunkelheit konnte Jujú nicht viel sehen. Sie wischte verzweifelt mit ihrem Taschentuch über die beigen Polster, und sie schienen ihr sauber.
    Nachdem Jujú etwa eine halbe Stunde auf ihrem Zimmer verbracht hatte, die meiste Zeit davon in ungläubiger Starre auf dem Bett sitzend, raffte sie sich endlich dazu auf, der Realität wieder ins Auge zu blicken. Es war ein milder Wintertag. Sie feierten ein Fest. Ihr Verlobter hatte sie gerade ziemlich unsanft entjungfert. Na und? Alltäglich. Es gab Schlimmeres.
    An der Treppe begegnete ihr Mariana. »Wo steckst du denn bloß. Komm schnell mit. Ich hatte dir ja eine Überraschung versprochen …«
    Ja, fiel es Jujú wieder ein, das hatte sie. Was mochte das jetzt wieder für ein kindischer Unsinn sein? Eine Torte, aus der Funken regneten? Ein Zauberkünstler, der süße
pastéis
aus seinem Hut zog? Es musste auf alle Fälle etwas mit Essen zu tun haben, so wie Marianas Augen leuchteten.
    Im Salon ging es hoch her. Rauchschwaden waberten durch die Luft, und unter dem Zigarrengeruch lag, ganz schwach, noch immer der Duft des Essens und der von frisch aufgebrühtem Kaffee. Es war noch gar nicht so spät, erst kurz vor elf, wie ihr ein Blick auf die Wanduhr sagte. Doch die meisten Gäste waren bereits in einem fortgeschrittenen Stadium der Trunkenheit und Ausgelassenheit. Die Feier hatte schließlich schon kurz nach Mittag begonnen. Jujús Befürchtung, jeder Anwesende würde ihr ihre Schande ansehen und sie dafür verdammen, war unbegründet. Die Leute amüsierten sich prächtig und ignorierten sie weitgehend.
    Jujú fühlte sich benommen. Der Zigarrenrauch erregte in ihr ein Unwohlsein, wie sie es nicht mehr gespürt hatte, seit sie als Zwölfjährige heimlich Vaters Zigarillos geraucht hatte. Sie ließ sich matt auf den leeren Stuhl neben der stark angeheiterten Dona Filomena sinken und rief den Kellner. Sie bestellte einen Kaffee sowie ein Glas Wasser und harrte der Überraschung, die Mariana sicher jeden Augenblick mit großem Tamtam vorführen würde. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Jujú drehte sich kraftlos herum und sah, dass es Rui war. Da rechts und links von ihr kein Stuhl frei war, ging er neben ihrem Stuhl in die Hocke. Dona Filomena war so intensiv mit ihrem Sitznachbarn beschäftigt, dass sie ihren Sohn, der neben ihr kniete, gar nicht bemerkte. Sie machte Anstalten, mit dem Herrn an ihrer Seite – war das nicht der Verleger aus Lissabon? – Bruderschaft zu trinken. Sowohl Jujú als auch Rui wandten den Blick von dem unwürdigen Spektakel ab. Rui nahm Jujús Hand in seine und drückte sie aufmunternd. Sie mussten den Eindruck erwecken, längst verheiratet oder zumindest sehr vertraut miteinander zu sein. Jujú wunderte sich, dass Rui nun wieder ganz der fürsorgliche Verlobte war.
    Gerade als Jujú sich sagte, dass sie jetzt, Überraschung hin oder her, gehen sollte, trat Mariana mit ausgebreiteten Armen durch die geöffnete Flügeltür des angrenzenden Speisezimmers. Was Jujú dann sah, ließ ihren Magen einen gewaltigen Satz machen. Sie schlug die Hand vor den Mund, sprang abrupt auf und rannte durch die Verandatür aus dem Salon. Die meisten Gäste bemerkten davon überhaupt nichts. Die, die es taten, belächelten Jujú. Die Jugend von heute – konnte nicht mal mehr ein

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