So weit der Wind uns trägt
beiden Nachbarn waren mittlerweile bei naturwissenschaftlichen Phänomenen angelangt, was Jujú als nur unwesentlich anregender empfand. Für den Bruchteil einer Sekunde spielte sie mit dem Gedanken, zu der Unterhaltung beizutragen, indem sie auf Marie Curie und ihre zwei Nobelpreise zu sprechen kam. Sie verwarf die Idee jedoch sofort wieder. Die einzige Chance, erneut Anschluss an das Gespräch zu finden und es so zu gestalten, dass auch sie sich dabei amüsierte, bestand darin, sich keck und unwissend zu geben – und den Männern dabei zu schmeicheln.
»Mein lieber Senhor Cunha, Sie stecken voller Überraschungen! Bei einem Mann Ihres Kalibers hätte ich ein so großes Interesse an den Naturwissenschaften niemals vermutet. Ich hielt Sie eher für einen Mann der schöngeistigen Dinge …«
»Oh, das eine schließt das andere ja nicht aus. Glauben Sie mir, Mademoiselle Juliana, ich bin ein begeisterter Leser der Romane unseres großen Eça, ich verfolge aufmerksam jede Neuerung in den bildenden Künsten, und ich bin, wenn ich das so sagen darf, auch nicht gänzlich unbeschlagen in der Kunst des Violinenspiels.«
»Was Sie nicht sagen? Das ist phantastisch! Vielleicht haben Sie anlässlich Ihres Besuches ja einmal die Gelegenheit, mit mir zusammen zu musizieren?«
»Unsere hübsche Menina Juliana ist nämlich«, kam es von Rui, »eine sehr talentierte Pianistin.«
»Aber nein! Rui, du übertreibst maßlos!« Und zu Senhor da Cunha gewandt ergänzte Jujú: »Ich spiele ganz leidlich. Sagen Sie, Senhor Cunha, haben Sie vielleicht einen Lieblingskomponisten?«
Seine Antwort fiel so lang und umständlich aus, dass Jujú mit ihren Gedanken wieder abschweifte. Während Senhor da Cunha sich über die Klassiker und die Modernen erging, sich in akademischen Details verlor und mit unübersehbarem Stolz angesichts seines Wissens seine Ausführungen mit allerlei Zitaten ausschmückte, wurde das Dessert aufgetragen.
Die Kellner und die Küchenriege waren eigens aus Lissabon angereist. Ihr Hauspersonal fühlte sich von den Wichtigtuern aus der Großstadt schlecht behandelt und von der eigenen Herrschaft zurückgesetzt, aber auf derlei Befindlichkeiten konnte man keine Rücksicht nehmen. Es war eine kluge Entscheidung ihrer Mutter gewesen, diese Leute kommen zu lassen. Das von ihnen mitgebrachte Geschirr und Besteck ergänzte ihr eigenes aufs Schönste, und Essen wie Bedienung waren von höchster Güte. Jujú kostete von der Tarte Tatin, die himmlisch schmeckte. Doch mehr als ein winziges Stück bekam sie einfach nicht herunter. Das Essen hatte so lange gedauert und war so üppig gewesen, dass sich jetzt allenthalben eine große Sattheit und Mattigkeit breitmachte.
Als Kaffee und
digestivos
aufgetragen wurden, war der Lärmpegel deutlich gesunken. Wahrscheinlich hörte Jujú deshalb ihren Vater so gut, der am Kopf des Tisches und relativ weit von ihr entfernt saß, als er sich über den Alentejo und seine Gebräuche ausließ. Er musste ganz schön einen sitzen haben. Normalerweise ließ er an seiner Heimatregion kein gutes Haar. Jetzt aber lobte er die Gegend, ihre fleißige und gottesfürchtige Bevölkerung, ihr mildes Klima, ihren fruchtbaren Boden, ihr berühmtes Kunsthandwerk. Vielleicht lag es daran, dass so viele Auswärtige da waren. Sie selber, dachte Jujú, war ja auch erst im Ausland zur glühenden Patriotin geworden. Offenbar merkt man erst angesichts fremder Sitten, wie wertvoll einem die Heimat ist. Noch immer hielt José Carvalho seinen Monolog über die Vorzüge des Alentejo. Sogar für die kulinarischen Spezialitäten fand er lobende Worte.
»Und unser
aguardente de medronho!
Ja, mein hochverehrter Senhor Queiróz«, dabei sah er einen Herrn an, der in England lebte und niemanden darüber im Unklaren ließ, »so etwas müssen Sie in Britannien lange suchen! Einen besseren Verdauungstrunk gibt es gar nicht, glauben Sie mir. Da kommt kein Brandy und kein Whisky mit!«
Jujú schämte sich für ihren Vater. Der einfache Schnaps aus den Früchten des Erdbeerbaums mochte aus medizinischer Sicht anderen Spirituosen gleichzusetzen sein. Geschmacklich war er es nicht.
»Anunciação! Bring uns doch mal die Flasche Medronheira! Oder nein: Bring gleich mehrere mit.«
Das Dienstmädchen, etwas perplex, dass es zu so später Stunde doch noch gebraucht wurde, machte einen Knicks und verließ eilig den Salon.
Wenig später kam sie mit drei Flaschen des Selbstgebrannten zurück. Ihr Patrão nahm sie ihr ab und
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