So weit der Wind uns trägt
Schnäpschen über den Durst trinken …
9
V enâncio Castro schlug die Augen auf. Einen Moment lang schwebte noch der schöne Traum, den er gehabt hatte, über ihm. Dann aber schob sich die Realität darüber, verdrängte die wunderbaren Bilder von Dona Gabriela auf dem Heuboden und ließ ihn aufschrecken. Verflucht! Er musste los, zur Arbeit. Durch die fadenscheinige Gardine drang bereits die Sonne, es war sicher schon nach acht. Ausgerechnet am Karnevalssonntag musste er zum
monte
, um dafür zu sorgen, dass die Übernachtungsgäste des Patrão ihre Autos in reisefertigem Zustand vorfanden. Das hatte er nun davon! Und er hatte geglaubt, als Chauffeur der Carvalhos das große Los gezogen zu haben. Von wegen.
Die werten Töchter durfte er durch die Gegend kutschieren und sich von ihnen herumkommandieren lassen. Den Patrão selber fuhr er fast jeden Tag nach Beja, wo er ihn abends im Café »Luíz da Rocha« wieder abholte. An manchen Abenden quatschte sein Dienstherr sich in dem Lokal fest, so dass Venâncio stundenlang im Auto saß und sich zu Tode langweilte. Denn dass er ebenfalls in die Wirtschaft ging, war ausgeschlossen. Auch die Senhora Dona Clementina nahm seine Dienste öfter in Anspruch, als Venâncio es in seiner totalen Unbedarftheit geglaubt hatte. Aber das alles ging ja noch. Bei diesen Fahrten konnte er wenigstens seine flotte Chauffeursmütze tragen, die ihm einst diese Arbeit als besonders erstrebenswert hatte erscheinen lassen.
Viel schlimmer war es, wenn er den Wagen reinigen musste oder gar irgendwelchen Fehlfunktionen auf den Grund gehen sollte. Er verstand zwar einiges von Motoren, aber dieses hochgezüchtete Gefährt war ihm ein Buch mit sieben Siegeln. Zudem achtete der Patrão sorgsam darauf, dass seinem frisch restaurierten Silver Ghost nur ja nicht der kleinste Kratzer zugefügt wurde, was angesichts der Straßenverhältnisse in diesem Landstrich ein Ding der Unmöglichkeit war. Immerzu wirbelten sie Steine auf, die unschöne Dellen in die Kotflügel schlugen. Oft passierten sie auch Wege, an denen die Zweige der Bäume gegen das Autodach und die Fenster schlugen. War das seine Schuld? Nein. Aber er, Venâncio Castro, musste es ausbaden. Neulich hatte der Patrão ihn doch glatt nach draußen gescheucht, um einen besonders tief hängenden Ast zu entfernen. War er Gärtner oder was?!
Venâncio krabbelte unter der Decke hervor. Es war bitterkalt in seiner Kammer. Er sprang sofort in seine Uniform, die noch von gestern über der Stuhllehne hing. Er benetzte das Gesicht mit ein wenig Wasser aus der Waschschüssel und prüfte mit dem Handrücken, ob eine Rasur nötig war. Hm, eigentlich schon. Ach was, es würde auch so gehen. Er hatte weder Lust noch die Zeit, sich jetzt zu einer umfangreicheren Körperhygiene aufzuraffen. Zehn Minuten nachdem er aufgewacht war, war Venâncio auf dem Weg zur Quinta, die etwa eine halbe Stunde Fußmarsch von der
aldeia
entfernt lag.
Als er auf Belo Horizonte ankam, war dort bereits eine für Sonntage ganz untypische Betriebsamkeit ausgebrochen. Die Autos standen jedoch glücklicherweise alle noch da, wo er sie am Vorabend geparkt hatte. Die Gäste durften länger schlafen als er. Aber vielleicht kam jeden Augenblick der Fahrer des Daimler aus dem Herrenhaus und verlangte nach seinem Auto – alte Leute wachten ja immer zu so unchristlichen Zeiten auf. Also machte Venâncio sich flugs ans Werk. Er befüllte die Wagen mit Benzin, da die Möglichkeiten, unterwegs zu tanken, äußerst begrenzt waren, zumal an einem Sonntag. Er befreite sie von dem schlimmsten Schmutz, wischte die Scheiben klar und suchte dann, als die allerdringlichsten Arbeiten erledigt waren, die Fußräume und Sitzspalten nach verlorenen Münzen oder anderen Fundstücken ab, die für die Herrschaften keinen, für ihn jedoch einen recht hübschen Wert darstellten. Es war unglaublich, was sich da so alles fand, das wusste er sogar schon aus seiner sehr kurzen Erfahrung als Chauffeur. Spitzengesäumte Taschentücher, Feuerzeuge, Silberknöpfe und dergleichen mehr hatte er auf diese Weise bereits aufgelesen.
Venâncio begann mit dem Daimler des alten Mannes, da der ja schätzungsweise als Erster hier auftauchen würde. Eine Zehn-Escudo-Münze, na ja, besser als nichts. Außerdem eine zerdrückte und geschmolzene Praline – die ließ Venâncio dort, wo sie war. Innenraumputzen fremder Wagen gehörte ganz eindeutig nicht zu seinen Aufgaben. Danach nahm er sich den Sportwagen des Schönlings
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