So weit der Wind uns trägt
einem leichten alentejanischen Akzent Anweisungen, wie er mit ihrem Gepäck zu verfahren habe. Wie der Blitz verschwand der Bursche im Waggon.
Jujú sah sich auf dem Bahnsteig um. Würde sie denn niemand abholen kommen? Sie nahm Laura und Paulinho an der Hand und stapfte zur Bahnhofshalle. Die Kinder mussten laufen, um mit ihr Schritt zu halten. Kurz bevor sie das Gebäude erreichten, kamen ihnen zwei kleine Mädchen entgegengerannt.
»Tante Juliana! Tante Juliana!«
Die beiden Töchter von Mariana stürmten auf sie zu und warfen sich Jujú in die Arme.
»Hallo, ihr Hübschen!« Jujú ging in die Hocke und küsste die Kinder. Als sie sah, dass nun auch Mariana sich näherte, stand sie wieder auf und stemmte die Arme in die Taille. »Mariana, du musst ihnen unbedingt abgewöhnen, dass sie mich ›Tante Juliana‹ nennen. Das macht mich viel älter, als ich ohnehin schon bin.«
»Was für eine Begrüßung … Ach, Jujú, wie schön, dass ihr da seid! Laurinha, Paulinho – mein Gott, seid ihr groß geworden!« Mariana herzte alle zusammen und überschüttete den Besuch sowie ihre eigenen Kinder mit unzähligen kleinen Küsschen, bevor sie auf Jujús anklagende Worte einging. »Du weißt doch, dass Mamã darauf besteht, dass wir dich Juliana nennen.«
»Warum«, mischte sich die kleine Octávia ein, »sollen wir denn nicht Tante Juliana zu dir sagen?«
»Weil deine Mamã und ich selber mal eine Tante Juliana hatten«, antwortete Jujú, »und ich nicht genauso heißen möchte wie sie.« Sie konnte dem Mädchen ja nicht gut erzählen, dass es ihr noch immer jedes Mal einen Stich versetzte, wenn sie den Namen hörte. Tante Juliana, die sie während ihres Paris-Aufenthaltes sehr ins Herz geschlossen hatte, war im Herbst 1918 an der Spanischen Grippe gestorben – als eines von rund 25 Millionen Opfern weltweit.
»Ach so.« Die Kleine machte ein sehr ernstes Gesicht. »Sollen wir dich lieber Tante Jujú nennen?«
»Ja – aber auf keinen Fall vor Dona Clementina!« Jujú zwinkerte ihrer Nichte verschwörerisch zu und reichte ihr die Hand, um den Pakt zu besiegeln. »Niemals! Versprochen?«
»Versprochen.« Dann wandte Octávia sich von der Tante ab und widmete sich ihrer Cousine und ihrem Cousin. Schnell verloren die Kinder jedes Interesse an den Erwachsenen.
Mariana nahm ihre Schwester bei den Schultern, hielt sie auf Armeslänge von sich entfernt und betrachtete sie von Kopf bis Fuß.
»Mein Gott, Jujú, du bist viel zu dünn! Und so blass. Aber ich gebe zu, dieses Kleid sieht sagenhaft an dir aus! Ganz die große Dame, was? Na warte, das werden wir dir hier schon wieder austreiben. Wenn ich dich erst aufgepäppelt habe, wirst du diese Art von Kleid wahrscheinlich nicht mehr tragen können.«
Jujú lachte. Mariana war wieder fast die Alte, wie tröstlich. Nach ihrer Hungerkur vor einigen Jahren war sie so dürr und so unausstehlich geworden, dass die ganze Familie darunter gelitten hatte. Anscheinend hatte Mariana sich schließlich doch hin und wieder ein Stück Schokolade gegönnt, was nicht nur ihrer Figur und ihrem Teint, sondern auch ihrem Temperament gut bekommen war.
»Du siehst toll aus, Mariana! Ach, wie ich mich freue, hier zu sein! Wir werden uns ein paar richtig schöne Tage machen, nicht wahr?«
»Ja, das werden wir. Wusstest du, dass ich jetzt selber Auto fahre? Wir können ein paar Ausflüge machen, wenn du Lust hast. Die Landschaft ist um diese Jahreszeit einfach atemberaubend.«
»Ach was?« Jujú zog eine Augenbraue hoch. »Darf ich dich daran erinnern, dass ich hier aufgewachsen bin und durchaus nicht unter Gedächtnisschwund leide?« Ganz im Gegenteil, dachte Jujú. Sie wurde geradezu verfolgt von Bildern aus der Vergangenheit. Seit sie Fernando in Lissabon getroffen hatte – er hatte einem weiteren Treffen schließlich doch zugestimmt –, konnte sie an kaum etwas anderes denken als an ihn. An ihre unbeschwerte Kinderfreundschaft, an die zaghaften Annäherungsversuche in ihrer Jugend, die ersten unbeholfenen Küsse. Sie träumte nachts von seinen Zärtlichkeiten und sehnte sich nach seinen Umarmungen. Und obwohl sie wusste, dass Intimitäten dieser Art ausgeschlossen waren, fieberte sie dem nächsten Treffen entgegen, das in wenigen Tagen stattfinden sollte: Auf dem Rückweg vom Alentejo in den Norden würde sie für einige Tage Station in Lissabon machen. Erneut würden sie einander in einem Kaffeehaus gegenübersitzen, um Worte ringen und vor lauter Befangenheit die
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