So weit der Wind uns trägt
Er sah sie, bevor sie ihn bemerkte. Sie saß auf einer Bank, die schlanken Beine damenhaft übereinandergeschlagen, einen Arm erhoben, um den Hut daran zu hindern, fortzufliegen. Ihr Blick ruhte auf einem kleinen Mädchen, das am Teichufer stand und die Enten fütterte.
Er setzte sich wortlos neben sie und beobachtete ebenfalls das Kind. Die Kleine sah aus wie eine originalgetreue Kopie ihrer Mutter, dasselbe widerspenstige Haar, derselbe etwas zu breit geratene Mund – und dasselbe vorwitzige Grinsen, stellte er fest, als sie sich herumdrehte und ihrer Mutter etwas zurief.
»Laura, komm her und sag dem Senhor Abrantes guten Tag. Er ist ein alter Bekannter von mir.«
Das Mädchen folgte der Aufforderung. Es machte artig einen Knicks, begrüßte den fremden Mann und lief dann sofort wieder zu den Enten.
Wenn Fernando insgeheim gehofft hatte, der Vater von Jujús erstem Kind zu sein, so wurden seine Hoffnungen nun enttäuscht. Das Mädchen hatte nichts, aber auch gar nichts von ihm. Dennoch wollte ihm die Möglichkeit nicht aus dem Kopf gehen. Zeitlich wäre es jedenfalls hingekommen. Jujú hatte ihm erzählt, dass ihre Tochter an Weihnachten 1916 zur Welt gekommen war.
»Vielleicht ist sie ja meine Tochter«, sagte er leise und wider alle Vernunft.
»Red keinen Unsinn. Außerdem sieht sie dir gar nicht ähnlich.«
»Deinem Mann auch nicht.«
»Oh, da solltest du mal meine Schwiegermutter hören. Sie ist nicht davon abzubringen, dass Laura ganz nach den da Costas gekommen ist. Aber lass uns von etwas anderem reden.«
»Vielleicht vom Wetter?« Er bereute seinen bissigen Ton sofort. »Es ist nur – «, fuhr er versöhnlicher fort, »ich dachte, wir hätten vielleicht Gelegenheit, uns allein zu sehen.«
»Ich konnte sie nicht zu Hause lassen. Paulo liegt krank im Bett, das Kindermädchen ist bei ihm. Laura hätte … ach, ich will dich nicht mit der Organisation meiner Familienangelegenheiten langweilen.«
»Du langweilst mich nicht.«
»Ich kann nicht lange bleiben. Aber wir könnten uns vielleicht einmal abends sehen? Das ist für mich einfacher, dann liegen die Kinder im Bett und …« Jujú unterbrach sich gerade noch rechtzeitig. Beinahe hätte sie ihm gestanden, dass sie gegen ein wenig Kerzenschein und Romantik gar nichts einzuwenden hatte.
Für Fernando war ein Treffen am Abend sehr viel schwieriger einzurichten. Aber zum Teufel auch – wenn sie es schon als Kinder geschafft hatten, nachts auszubüxen, dann dürfte es ihm heute ja wohl kaum schwerer fallen, sich unbemerkt von Frau und Schwiegereltern davonzustehlen. Er könnte eine politische Versammlung vorschieben oder Verabredungen mit politisch ambitionierten Militärs. Gar nicht mal so abwegig, dachte Fernando, denn tatsächlich bahnte sich da etwas an. Revolte lag in der Luft.
»Ja. Passt es dir morgen?« Er sah, dass sie nickte. »Dann lasse ich einen Tisch in der ›Cervejaria da Trindade‹ reservieren. Um neun.«
Dem Essen in der lauten und wenig romantischen Brasserie folgte tags darauf ein Treffen in einer Ginginha-Bar, dem Drink im Hotel Veneza ein Theaterbesuch im São Carlos, das sie allerdings in der Pause verließen. Fernando hatte Elisabetes beste Freundin entdeckt – glücklicherweise, bevor diese ihn sah – und hatte Jujú, zunächst ohne Erklärung, mit sich hinausgezerrt. Auf dem Vorplatz des Nationaltheaters brach es aus ihm heraus: »Das war knapp!«
Die Möglichkeit, erwischt zu werden, hatte immer schon bestanden. Doch erst die haarscharf vermiedene Katastrophe rief Fernando in Erinnerung, auf welchem schmalen Grat er und Jujú sich bewegten. Es war ein haltloser Zustand. Fernando gefährdete nicht nur Jujús und seinen eigenen Ruf, sondern auch den seiner Familie. Niemand würde ihnen abnehmen, dass außer ein paar keuschen Berührungen und tiefen Blicken nichts passiert war. Er konnte es ja selber kaum glauben. Im Geiste hatte Fernando seine Frau unzählige Male betrogen, und der Wunsch, es auch körperlich zu tun, wurde so unbezwingbar, wie seine Schuldgefühle es bereits jetzt waren.
»Übermorgen muss ich zurück nach Pinhão fahren«, sagte Jujú, während sie wie zwei entfernte Bekannte zur Praça Luíz de Camões schlenderten. »Es lässt sich nicht länger hinauszögern. Aber ich komme bald wieder, versprochen.«
Am Taxistand streichelte er ihre Wange. Er suchte nach den richtigen Worten. Sollte er – durfte er – sie wirklich zu einem intimeren Treffen bitten?
»Warst du schon einmal in
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