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So weit die Hoffnung trägt - Roman

So weit die Hoffnung trägt - Roman

Titel: So weit die Hoffnung trägt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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hören?«
    Ich lächelte. »Sehr gern.«
    Er lächelte breit. »Ich würde mich sehr freuen, für Sie Klavier zu spielen.«
    Wir standen beide auf und gingen ins Wohnzimmer. Ich lehnte mich auf dem Sofa zurück, während Leszek sich an sein Instrument setzte. Für einen Moment sah er auf das Klavier, dann hob er die Hände, verharrte mit den Fingern kurz über den Tasten und begann zu spielen.
    Ich weiß nicht, was er spielte, aber ich konnte spüren undhören, wie Leszeks Seele durch seine Musik hinausströmte. Er war kein grauer, schwacher alter Mann mehr, sondern lebendig und stark.
    Selbst das Zimmer war verändert, verherrlicht durch die Macht und Strahlkraft der Musik, und ich fühlte mich fast, als würde ich zwischen samtenen Wandteppichen und Blattgoldverzierungen in einem der schönsten Konzertsäle Europas sitzen. Ich schloss die Augen, verloren in der Leidenschaft des Augenblicks – irgendwo zwischen Schmerz und Hoffnung, Verzweiflung und Triumph, Vergangenheit und Zukunft, nirgendwo und überall zugleich.
    Dann brach die Musik ebenso unvermittelt ab, wie sie begonnen hatte, ließ den Raum leise zurück, und die Stille klang machtvoll nach.
    Tränen liefen mir übers Gesicht. Und über Leszeks. Er war wieder ein alter Mann, dem Tode geweiht. Ohne mich anzusehen, sagte er: »Es ist schon spät. Ich denke, ich werde jetzt zu Bett gehen.« Er erhob sich von seinem Klavierstuhl.
    »Danke«, sagte ich.
    Er wandte sich zu mir um. »Gern geschehen, mein Freund. Es war mir ein Vergnügen.«
    Und dann schlurfte der alte Mann zu seinem Zimmer.

Vierzehntes Kapitel
    Vergeben heißt, den Käfig des Wahnsinns eines
anderen aufzusperren, um uns selbst zu befreien.
    A LAN C HRISTOFFERSENS T AGEBUCH
    Ich lag stundenlang im Bett und fand keinen Schlaf – nicht nur, weil ich den ganzen Tag verschlafen hatte, sondern weil mein Kopf zu voll war. Ich dachte vor allem an das Grauen, das Leszek in seinem Leben gesehen hatte. Mir wurde bewusst, dass die Gräueltaten des Holocaust für mich in mancher Hinsicht zu Kino geworden waren: eine mentale Bibliothek von Dokumentationen, Spielfilmen und Büchern, die ich als Jugendlicher kennengelernt hatte, in dem Irrglauben, ich wüsste irgendetwas über das Grauen. Aber ich hatte noch nie jemanden getroffen, der es selbst erlebt hatte. Es war wie der Unterschied, ob man einen Reisebericht liest oder mit einem Einheimischen spricht.
    Das war etwas, das mir unbegreiflich war: Wie konnte ein Mensch so unmenschlich zu anderen sein? Ich setzte mich selbst in die Gleichung ein. Wäre ich ein deutscher Soldat gewesen, hätte ich Befehlen gehorcht? Statistisch betrachtet, hätte ich es vermutlich getan. Was, wenn ich in Leszeks Lage gewesen wäre? Hätte ich einen Fluchtversuch unternommen, oder hätte ich meinen Tod akzeptiert? Und war das, in mancher Hinsicht, nicht genau die Frage, vor der ich im Augenblick stand?
    In diesen dunklen, stillen Stunden fand ich die Wahrheitvon Leszeks Worten. Was er sagte, stimmte – ob absichtlich oder nicht, ich hatte Kyle Macht über meine Zukunft übertragen. Ich hatte ihm einen ständigen Anteil an meinem Leben eingeräumt – wie eine oft wiederholte Serie im Fernsehsender meines Geistes. Als Werbemann verstand ich das. Wir bezahlten den Medien Geld, um Platz in den Köpfen ihrer Zuschauer zu mieten. Genau das hatte ich Kyle gegeben, eine Fernsehserie in meinem Kopf, ein tagtägliches Drama, das ich ansah und das Schmerz erzeugte, Hass und Rechtfertigung und … dann sah ich es. War es möglich, dass ich an meinem Hass und meiner Unversöhnlichkeit festhielt, weil ich es wollte? Dass Hass eine ebenso starke Befriedigung erzeugte wie Sex oder Gewalt? Dass ich irgendein elementares Bedürfnis verspürte, ihn gnadenlos im Boxring meines Geistes zusammenzuschlagen? Wieder und Wieder? Und wie lange würde diese Serie noch weiterlaufen, bevor ich sie absetzte? Bis ans Ende meiner Tage?
    Das war durchaus möglich. Ich hatte Leute getroffen, die an ihrem Groll wie an ihrem kostbarsten Besitz festhielten, die sich an ihre Verbitterung und ihren Hass klammerten, selbst nachdem das Objekt ihres Hasses tot und begraben war.
    Diese Vorstellung schien absurd. Wenn mein Leben, wie mein Vater immer sagte, die Gesamtsumme meiner Gedanken war, was würden dann solch hasserfüllte Gedanken aus meinem Leben machen? Und war ich bereit, jemand anderem so viel Macht über mich und mein Leben zu geben? Nein. Ich wollte meine Gedanken selbst besitzen. Ich wollte meinen

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