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So weit die Hoffnung trägt - Roman

So weit die Hoffnung trägt - Roman

Titel: So weit die Hoffnung trägt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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herein. Er gab einem der Gepäckträger sogar ein Trinkgeld und bat ihn, unser Gepäck auf unser Zimmer zu bringen.
    Diese Ankunft mit dem Zug …« Er rieb sich mit einer schweren Hand übers Gesicht. »So etwas vergisst man nie. Das Geräusch des bremsenden Zuges. Der Geruch. In der Luft lag ein grauenhafter Geruch – immer dieser Geruch.
    Die deutschen und die ukrainischen Wachleute trennten uns in zwei Gruppen – Männer auf die eine Seite, Frauenund Kinder auf die andere, mit etwas Abstand dazwischen. Sie sagten, die Jungen, die vierzehn Jahre und jünger waren, sollten bei ihren Müttern bleiben. Ich war knapp vierzehn, daher konnte ich mich nicht entscheiden, ob ich mit ihr oder meinem Vater gehen sollte. Meine Mutter traf die Entscheidung für mich. Ich weiß nicht, ob sie es tat, weil sie meinen jüngeren Bruder und meine Schwester bei sich hatte und nicht wollte, dass mein Vater allein war, oder ob sie irgendwie ahnte, was passieren würde, aber sie sagte mir, ich solle mit meinem Vater gehen.
    Der Kommandant, der uns am Bahnhof empfing, hielt eine Ansprache. Wir waren alle so erschöpft, hungrig und durstig, dass wir nicht klar denken konnten. Wir waren bereit, alles zu glauben. Der Kommandant sagte uns, Sobibor sei ein Arbeitslager. Es würde nicht leicht für uns sein, und wir würden hart arbeiten müssen, aber da harte Arbeit gut für die Seele sei, sollten wir ihnen dankbar sein.
    Sie sagten, Sobibor sei ein sicherer Ort, und solange wir tun würden, was man uns sagte, würde es uns gut ergehen. Aber wenn wir nicht gehorchten, würden wir bestraft werden.
    Auf dem Weg ins Lager war ein Gerücht im Zug umgegangen, Sobibor sei ein Vernichtungslager. Daher hielten wir diese Neuigkeit, so schlimm es um uns auch stand, doch für sehr gut.«
    Tränen sammelten sich in Leszeks Augenwinkeln, kullerten aber nicht hinunter, als würde er sich weigern, es zuzulassen.
    »Der Offizier, der zu den neu angekommenen Häftlingen sprach, war ein SS -Offizier namens Hermann Michel. Wir nannten ihn den ›Prediger‹, da er ein cleverer Prediger von Lügen war. Das ist eine Lektion, die ich wirklich gelernthabe – niemals Leuten mit sanften Stimmen und Waffen zu vertrauen.
    Nachdem er uns im Lager begrüßt hatte, sagte er, in einem der anderen Lager sei der Typhus ausgebrochen, und da ihm unsere Gesundheit sehr wichtig sei, müssten wir, bevor wir in unsere Baracken dürften, duschen und unsere Kleider waschen lassen. Er sagte uns, das sei der einzige Grund, weshalb die Männer und Frauen getrennt werden mussten, aber wir würden bald wieder zusammen sein und könnten als Familien zusammenleben. Ich weiß noch, wie meine Mutter meinen Vater anlächelte. Sie glaubte, es würde alles gut werden.
    Michel sagte: ›Falten Sie Ihre Kleider zusammen und vergessen Sie nicht, wo sie liegen. Ich werde nicht bei Ihnen sein, um Ihnen zu helfen, sie zu finden.‹
    Dann gingen die Soldaten durch die Reihen und fragten, ob irgendjemand irgendein Handwerk beherrschte. Sie waren insbesondere interessiert an Schreinern, Schuhmachern und Schneidern. Mein Vater war Schuhmacher, und ich hatte bei ihm gearbeitet, seit ich elf war. Er sagte den Soldaten, wir hätten ein Handwerk gelernt. Sie holten uns aus der Reihe. Dann gingen kleine Jungen die Reihen auf und ab und gaben den Leuten Schnüre, um ihre Schuhe zusammenzubinden.
    Die Alten und Kranken wurden als Erste weggebracht. Man verfrachtete sie auf Karren und sagte ihnen, sie würden in ein Krankenhaus kommen und versorgt werden, aber sie wurden sofort zu einer Grube auf der anderen Seite des Lagers gebracht, wo sie erschossen wurden.
    Alle anderen wurden in Gruppen an hübschen kleinen Häusern mit Gärten und Blumen in Töpfen vorbeigeführt. Es sah sehr nett aus, aber das gehörte alles zu dem Trick. Siewurden einen Weg entlanggeführt, den die Nazis ›Himmelstraße‹ nannten.
    Nachdem die alten Leute fort waren, waren als Nächstes die Frauen und Kinder an der Reihe. Ich winkte meiner Mutter und meinem kleinen Bruder und meiner Schwester zum Abschied zu. Meine Mutter warf meinem Vater und mir eine Kusshand zu.«
    Seine Augen füllten sich wieder mit Tränen. »Damals wusste ich es noch nicht, aber bereits eine Stunde später waren meine Mutter, mein Bruder und meine Schwester tot. Die Nazis waren sehr effizient.«
    Er sah mich an, und seine Miene war auf einmal düster. »Einmal habe ich die Schreie gehört. Ich war seit drei Monaten in Sobibor und wurde angewiesen, in der

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