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So weit die Hoffnung trägt - Roman

So weit die Hoffnung trägt - Roman

Titel: So weit die Hoffnung trägt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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als einhundert von uns die Flucht in die Freiheit. Und selbst von diesen wurden viele später von polnischen Verrätern in der Stadt ausgeliefert oder getötet.«
    »Das heißt, die Aktion ist gescheitert«, sagte ich.
    »Nein. Sie war es wert, selbst wenn nur einer von uns entkommen wäre, denn wir wären alle sowieso gestorben – jeder Einzelne von uns. Ich hatte Glück. Ein braver Bauer fand mich. Er nahm mich bei sich auf und versteckte mich, bis der Krieg vorbei war. Ihm verdanke ich mein Leben.«
    Auf einmal verstand ich. »Deswegen haben Sie angehalten, um mir zu helfen.«
    »Ja. Ich habe Gott versprochen, mich niemals von jemandem abzuwenden, der Hilfe braucht.«
    »Was haben Sie gemacht, nachdem der Krieg zu Ende war?«
    »Ich hatte viel Hass in mir. Ich wurde gebeten, bei den Kriegsverbrecherprozessen auszusagen. Dort konnte ich einigen der Wachleute in die Augen sehen und auf sie zeigen und dafür sorgen, dass sie verurteilt wurden. Das bereue ich nicht. Gnade sollte nicht vor Gerechtigkeit kommen.
    Aber meine Seele wurde düster. Ich vertraute niemandem mehr. Ich hasste jeden. Selbst die Polen. Bis ich Ania kennenlernte.« Seine Miene wurde sanfter, als er ihren Namen aussprach. »Meine liebe Ania. Sie hatte auch gelitten. Nicht in Sobibor, aber sie hatte selbst den Tod gesehen. Ihr Vater und ihre Mutter wurden vor ihren Augen getötet. Aber sie war nicht so wie ich. Sie war so schön. Nicht nur ihr Gesicht, das, wie ich Ihnen versichern kann, wunderschön war, sondern ihre Augen. Irgendwie konnte sie noch immer lächeln und lachen.«
    Bei diesen Worten lächelte er zum ersten Mal, seit er mitseiner Erzählung begonnen hatte. »Ach, meine liebe Ania. Ich konnte mich nicht von ihr fernhalten. Aber sie wollte mich nicht. Schließlich fragte ich sie: ›Warum, Ania? Warum willst du mich nicht?‹
    Sie sagte: ›Weil du so bist wie diese Leute.‹ Ich wurde sehr wütend. Ich sagte: ›Ich bin nicht so wie sie.‹ Sie sagte: ›Ihr Hass auf uns – dein Hass auf sie, das ist dasselbe. Du trägst so viel Hass in deinem Herzen, da hättest du genauso gut in Sobibor sterben können.‹
    Sie hatte recht. Ich war genau wie diese Leute. Sie zeigte mir, dass das Einzige, was man mir nicht nehmen konnte, meine freie Entscheidung war. Daher traf ich die Entscheidung, frei von ihnen zu sein. Frei von meiner Vergangenheit, meiner schrecklichen, schrecklichen Vergangenheit.« Er nickte. »Und dann hat sie mich geheiratet. Ich wurde ein freier Mann, mehr noch als damals, als ich aus dem Lager floh. In vieler Hinsicht war es dasselbe.«
    »Was ist aus Ania geworden?«
    »Meine Ania ist vor neun Jahren gestorben. Nach ihrem Tod kam ich nach Amerika, um bei meinem Sohn zu sein. Er lebt jetzt in Kalifornien.«
    Ich senkte lange Zeit den Blick, und dann sagte ich: »Es tut mir leid. Meine Probleme sind klein im Vergleich dazu.«
    Er streckte eine Hand aus und legte sie auf meine. »Nein. Ihre Probleme sind nicht klein. Sie sind auch schrecklich. Umso mehr Grund für Sie, sie loszulassen.« Nachdenklich sah er mir in die Augen und sagte etwas, das mich für immer veränderte. »Was würde Ihre Liebste wollen, dass Sie tun?«
    Meine Augen füllten sich mit Tränen. Als ich wieder sprechen konnte, sagte ich: »Sie hätte mir gesagt, ich solle frei sein.«
    Er nickte. »Ja, genau wie meine Ania. Genau wie meineAnia.« Er drückte meine Hand. »Ehren Sie ihre Wünsche, und Sie werden sie ehren.«
    Ich dachte über seine Worte nach. »Aber wie soll ich das anstellen? Wie soll ich vergeben?«
    »Ich hatte niemanden, an den ich mich wenden konnte. Niemanden, zu dem ich ›Ich vergebe dir‹ sagen konnte. Aber Sie können zu ihm gehen, zu Ihrem Partner. Sie können ihm sagen, dass Sie ihm vergeben. Aber zuerst müssen Sie es zu Gott sagen. Und dann können Sie es vielleicht zu ihm sagen.«
    »Ich glaube, er denkt nicht, dass er etwas Unrechtes getan hat.«
    »Er weiß, dass er etwas Unrechtes getan hat. Ganz bestimmt. Aber darum geht es im Grunde gar nicht. Es geht um Ihre Freiheit. Er muss seine eigene finden.« Der Augenblick verlor sich in Schweigen. Schließlich sagte Leszek: »Ich habe Sie zu sehr belastet, wo Sie so krank sind.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ganz und gar nicht. Ich werde über das nachdenken, was Sie mir gesagt haben.«
    Er nickte. »Möchten Sie noch etwas Suppe?«
    »Nein, danke. Ich bin satt.«
    Auf einmal hellte sich seine Miene auf. »Möchten Sie mich dann vielleicht mit etwas Klaviermusik

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