So weit die Wolken ziehen
über dem Hügel verstreut lagen. In einem weiten Bogen kurvten die Jäger noch einmal heran. Sie flogen über den Treck hinweg, feuerten aber nicht mehr.
Wenig später tauchten sie noch einmal auf, verschwanden aber hinter der Kuppe. Wieder war das Gehämmer der Abschüsse zu hören.
Als danach alles still blieb, setzte sich der Treck langsam in Bewegung. Die Straße führte an einem Fichtenwald entlang. Es dämmerte schon, als sie an der Stelle vorüberkamen, die offenbar im Zielfeuer der Jäger gelegen hatte. Mehrere Lkws waren in die Schlucht gestürzt und verbreiteten einen stechenden Brandgeruch. Pferdekadaver, auch einige tote Menschen lagen am Wegesrand. Eine junge Frau, ihren Säugling im Arm, hatte sich über ihr Kind gebeugt, bevor die Kugeln sie trafen, und hatte es doch nicht retten können.
»Nicht hinschauen«, sagte Dr. Scholten. Die Mädchen trotteten weiter. Es war schon dunkel, als sich ein mit kniehohem Gebüsch bewachsener Abhang vor ihnen öffnete. Bis hinauf zum Waldsaum hockten Menschen in kleinen Gruppen. Sie hatten Feuer angezündet. Bratgeruch stieg den Mädchen in die Nase. Sie spürten, wie hungrig sie waren.
»Wir rasten eine halbe Stunde«, sagte Dr. Scholten. »Aber dann geht es weiter.«
Eine Flüchtlingsgruppe winkte die Mädchen zu sich ans Feuer. Große Fleischstücke wurden über der Glut gebraten.
»Wollt ihr auch was?«, fragte ein Junge. »Keine Sorge. Wir haben das Fleisch aus den Ochsenrücken geschnitten, nicht aus den Pferden.«
Ist mir egal, dachte Anna.
Das Fleisch schmeckte leicht süßlich.
»Uns ist leider das Salz ausgegangen. Habt ihr keins bei euch?«, fragte der Junge.
In den Verpflegungspäckchen von Frau Zitzelshauser waren kleine Tütchen mit Salz. Die Mädchen würzten ihr Fleisch und gaben die Tütchen weiter. Von einem Brotlaib, den der Junge ihnen reichte, durften sie sich ein Stück abbrechen. Selbst Dr. Scholten, der sich zunächst geziert hatte, mit den Zähnen einen Bissen Fleisch abzureißen, langte schließlich kräftig zu. Er bedankte sich, indem er eine Zigarre aus der Jackentasche zog. Er brach sie in zwei Hälften und gab die Stücke den beiden alten Männern, die neben ihm hockten. Der eine hatte einen struppigen weißen Schnurrbart, in dem einige Fleischreste klebten. Er schnupperte am Tabak und sagte: »Gutes Kraut. Genau das Richtige nach einem so reichlichen Fressen.«
Die Zigarren waren noch nicht aufgeraucht, da drängte Dr. Scholten die Mädchen zum Aufbruch. Schon nach wenigen Hundert Metern ging es nicht mehr weiter.
»Vorn soll ein schweres Unglück passiert sein«, sagte ein Soldat. »Hier werdet ihr vorläufig nicht durchkommen.«
Nach rechts bog eine schmale Schotterstraße ab.
»Wir wollen nach Wilhelmsburg«, sagte Dr. Scholten. »Können wir nicht auch den Weg da nehmen?«
»Sicher«, antwortete der Soldat. »Ist sogar eine Abkürzung. Allerdings geht es mal auf, mal ab.«
»Wie weit?«
»Genau weiß ich’s nicht. Aber nach ein paar Kilometern erreicht ihr einen Weiler mit einem Gasthof.«
»Danke für die Auskunft.«
Frau Brüggen und ihre Gruppe waren in der Zwischenzeit gut vorangekommen. Es war ihnen nach einigen Kilometern Fußmarsch gelungen, einen Militärwagen anzuhalten. Auf der offenen Ladefläche saßen zwischen Kisten und Kasten schon andere Mädchen aus Maria Quell eng beieinander. Frau Brüggen hob ein Kind nach dem anderen aus ihrer Gruppe hinauf.
»Jetzt geht aber nichts mehr«, hörte sie jemanden sagen. »Wir drängen uns schon wie die Heringe in der Tonne.«
Überrascht erkannte Frau Brüggen Frau Wisnarek, Frau Weber und Frau Hennig. Sie waren auch auf dem Wagen.
»Nur noch drei Kinder sind hier unten«, sagte sie. »Wenn Sie die Kisten enger zusammenrücken, wird noch genügend Platz für uns sein.«
»Das müssen Sie dann schon selbst versuchen«, sagte Frau Wisnarek. »Die sind nämlich bleischwer.«
Frau Brüggen wurde wütend, zog sich an der Seitenplanke hoch und drängte sich bis zu den Kisten durch. Frau Wisnarek schlug mit der flachen Hand zweimal auf das Dach der Fahrerkabine. Unvermittelt fuhr der Lkw los.
Frau Brüggen wurde gegen eine Kiste geschleudert. »Stehen bleiben!«, schrie sie. »Die Kinder! Die Kinder!« Entsetzt sah sie, wie drei ihrer Mädchen immer weiter zurückblieben.
»Wo ist Ruth Zarski?«, fragte sie.
Niemand antwortete. »Wie meinen Augapfel«, flüsterte sie und begann zu weinen.
Während der nächsten Stunde gab es für sie keine Gelegenheit, vom
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