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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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kommen? Oder wenn der Peter aufwacht und nach seiner Mutter schreit?«
    Frau Bartoschek ließ sich Zeit. Der Treck kam jetzt besser voran und Ruth musste schneller gehen. Aber sie hielt die Zügel locker und überließ es dem Pferd, nicht vom Weg abzuweichen.
    Frau Bartoschek kam im Dauerlauf hinter ihnen her.
    »Na, du kannst es doch«, lobte sie Ruth. »Kommt, Kinder, ich setze euch nach vorn auf den Bock. Du führst das Pferd, Ruth. Wenn Hannibal zu dicht auf den Wagen vor uns auffährt, ziehst du ganz sanft die Zügel an und sagst Brrr. Dann geht Hannibal langsamer. Verstanden?«
    Ruth nickte. »Aber Sie bleiben doch nicht lange weg, Frau Bartoschek?«
    »Nein. Ich steige zu meiner Nachbarin auf den Wagen, der gleich hinter uns fährt. Ich löse sie ein paar Minuten ab. Agnes Petrusch hat vor drei Wochen ein Mädchen geboren, ihr drittes Kind. Vier Tage nach der Geburt mussten wir Hals über Kopf fliehen. Ihr Gaul Zerberus ist ein Halunke. Hat schon öfter Zicken gemacht und versucht auszubrechen. Sie gibt alle paar Stunden der Kleinen die Brust. Und das geht schlecht, wenn sie zugleich das Pferd führen muss. Maria, die älteste Tochter von Agnes, ist gerade erst drei Jahre alt. Die kann das Tier nicht halten. Deshalb spring ich ein paar Mal am Tag ein.«
    »Wer lenkt dann Ihr Gespann, Frau Bartoschek, wenn wir nicht da sind?«, fragte Gitta.
    »Na, das macht der Peter. Aber jetzt schläft er. Warum soll ich ihn wecken? Ihr seid ja da.«
    Frau Bartoschek nützte die Gelegenheit und blieb auch noch bei der Nachbarin, als der Säugling längst wieder im Federkissen hinter seiner Mutter lag und schlief. Erst als vorn im Treck Unruhe aufkam, übernahm Frau Bartoschek wieder ihr Gespann. »Was ist da los?«, fragte sie und reckte den Hals.
    Die Straße war für den Flüchtlingstreck immer noch gesperrt. Der Feldgendarm leitete die Wagen auf die Nebenstraße. Nur die Militärfahrzeuge durften auf der linken Spur weiterfahren. Manche, die ein Gespann führten, weigerten sich, es auf den schmaleren Weg zu lenken. Sie mussten ihre Wagen auf einer großen Wiese abstellen. In Dreierreihen standen sie dort. Die meisten Zugtiere hielten ihren Kopf gesenkt, sie schienen im Stehen zu schlafen. Die Leute, denen die Gespanne gehörten, hofften, dass die Straße irgendwann doch wieder freigegeben würde. Weiter vorn herrsche ein riesiges Durcheinander, sagte der Feldgendarm. Das hätten die verdammten Tiefflieger verschuldet. Dann hätte es auch noch einen schweren Unfall gegeben. Es werde also noch geraume Zeit dauern, bis es geordnet weitergehe. Trotzdem wollten viele warten.
    Die Mädchen entschlossen sich, zu Fuß weiterzugehen.
    »Wir wollen die anderen aus unserer Klasse einholen, Frau Bartoschek. Die haben die Landstraße bestimmt nicht verlassen«, sagte Ruth.
    »Wie ihr wollt.«
    Frau Bartoschek half ihnen beim Absteigen und reichte ihnen die Rucksäcke. Sie fuhr wieder an. Da fiel ihr doch noch etwas ein. Sie griff auf dem Wagen hinter sich, schlug ein Stück Brot in ein Küchenhandtuch ein und warf es den Kindern zu.
    »Denkt an mich, wenn ihr davon esst«, rief sie.
    »Wird nicht lange dauern, bis wir das aufgegessen haben«, sagte Hertha.
    Die Männer der Organisation Todt hatten die Mädchen, die bei dem Unglück nicht zu Tode gekommen waren, den Abhang hochgetragen und in einem Bauernhaus jenseits der Straße in einer großen Stube untergebracht. Dort befanden sich schon mehrere Flüchtlingsfrauen. Ein mächtiger weiß gekalkter Kachelofen verbreitete eine angenehme Wärme. Die Mädchen zitterten trotzdem am ganzen Leib. Das lag nicht nur daran, dass ihre Kleider durchnässt und zum Teil zerrissen waren. Auch als Soldaten ihnen Decken gaben, hörte das Zittern nicht auf.
    Die Bauersfrau sagte: »Die nassen Kleider müssen ausgezogen und getrocknet werden. Sonst holen sich die Kinder noch eine Lungenentzündung.«
    Die Frauen halfen den Mädchen und schlugen sie fest in Wolldecken ein. Die Kleider breiteten sie rund um den Kachelofen zum Trocknen aus. Später öffnete sich noch einmal die Stubentür. Ein junger Soldat, vielleicht siebzehn, achtzehn Jahre alt, trug ein Mädchen herein. Er weinte. »Wir haben sie für tot gehalten und sie zu den anderen an den Straßenrand gelegt«, stieß er hervor. »Aber dann ist sie doch aus ihrer Ohnmacht erwacht.«
    Das Mädchen hatte nur noch seine Unterwäsche an. Nicht einmal Schuhe und Strümpfe waren ihr geblieben.
    »Hat denn niemand etwas zum Anziehen für sie?«, fragte

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