So weit die Wolken ziehen
Mädchen kletterten von der Ladefläche hinunter und stellten sich an den Straßenrand. Der Flüchtlingstreck wurde angehalten, sodass eine Lücke entstand. Der Sattelschlepper ruckte an und fuhr auf den Lkw zu. Ganz langsam schob er das Hindernis über die Straße bis zum Steilhang. Der Lkw bekam Übergewicht und riss die beiden Anhänger mit sich in die Tiefe. Die leeren Ölfässer, die auf der vorderen Ladefläche standen, wurden herausgeschleudert und schepperten in die Tiefe.
»Los, rüber auf die rechte Seite«, schrie der Fahrer des Sattelschleppers den Mädchen zu. »Galopp, Galopp! Ich kann nicht ewig warten.« Er ließ den Motor aufheulen. Hastig liefen die Mädchen über die Fahrbahn und gliederten sich in den Treck ein.
Sie waren noch keine hundert Meter gelaufen, da rief der Fuhrmann eines Ochsengespanns den letzten Mädchen in der Gruppe zu: »Kommen. Auf Wagen.« Er hielt drei Finger in die Höhe.
»Der Ungar will uns mitnehmen«, sagte Lydia, die mit Lotte und Doris den Schluss bildete.
»Er will nur drei von uns.« Lotte kletterte auf das Fuhrwerk, das langsam weiterfuhr. Sie gab Lydia und Doris die Hand und half ihnen auf den Wagen.
Dr. Scholten, der an der Spitze der Gruppe gegangen war, eilte zurück. »Nein, nein!«, schrie er. »Ihr dürft die Gruppe nicht verlassen. Runter mit euch.«
Lotte und Doris sprangen ab. Lydia zögerte und versuchte hinunterzuklettern. Dabei geriet sie mit ihrem rechten Fuß zwischen Rad und Wagenplanke. Sie schrie laut auf. Sofort hielt der Fuhrmann die Ochsen an. Bevor er nach hinten kam, hatte Lydia sich schon befreit. Die Kappe ihres Schuhs war aufgerissen. Sie spürte einen stechenden Schmerz und humpelte an den Straßenrand. Der Ungar zuckte hilflos mit den Achseln, drehte sich um und setzte sich wieder auf sein Fuhrwerk. Der Treck zog weiter. Einige Mädchen blieben bei Lydia stehen. Dr. Scholten fragte besorgt: »Kannst du laufen? Wir können hier unmöglich bleiben.«
Doris nahm Lydia den Rucksack ab, Lotte stützte sie.
»Es wird schon gehen.« Lydia biss die Zähne zusammen und humpelte los. Nach ein paar Minuten ließ der stechende Schmerz ein wenig nach.
Dr. Scholten wusste nicht, was er machen sollte. Er wollte das Mädchen auf keinen Fall zurücklassen. Aber wie lange konnte sie durchhalten? »Ich muss nach vorn zu Anna und den anderen«, sagte er schließlich. »Unsere Gruppe darf nicht auseinandergerissen werden. Wir warten auf euch. Wirst du durchhalten, Lydia?«
»Sicher«, sagte sie nur.
Schneller, als Dr. Scholten erwartet hatte, ergab sich eine Lösung. Neben der hinteren Gruppe stoppte ein geschlossener Lkw mit zwei Anhängern, ohne dass die Mädchen gewinkt hatten.
»Soll ich euch mitnehmen?«, fragte der Fahrer.
»Ja, sicher«. Doris zeigte auf Lydia. »Sie ist verletzt.«
»Dann los. Ab mit euch in den letzten Anhänger. Es sind schon ein paar Leute drauf. Die sollen zusammenrücken. Es wird schon gehen.«
Die Mädchen, die weiter vorn waren, eilten auch herbei. Aber ganz so gut, wie sie gehofft hatten, ging es dann doch nicht. Außer einem Dutzend Menschen befanden sich ein paar schwere Munitionskisten auf dem Anhänger. Trotzdem fanden fast alle Mädchen Platz. Fast alle. Dr. Scholten, Schwester Nora und vier Mädchen mussten draußen bleiben.
»Was sollen wir machen?«, schrie Doris.
»Bleibt, wo ihr seid. Schwester Nora fährt mit euch. Ich gehe mit den anderen zu Fuß weiter. Und denkt dran, spätestens in Wilhelmsburg …« Der Wagen fuhr mit einem Ruck an.
»Halt! Halt! Schwester Nora muss noch …«
Der Lkw wurde schneller. Der Fahrer wollte die Lücke schließen, die vor ihm entstanden war. Die Hecktür des Anhängers ließ sich nicht verriegeln. Sie sprang immer wieder auf. Die Mädchen hatten Mühe, nicht hinauszufallen. Sie hielten sich gegenseitig fest.
»Ihr kennt den Treffpunkt. Wilhelmsburg! Hört ihr? Wilhelmsburg!«, rief Dr. Scholten ihnen nach.
Dr. Scholten, Schwester Nora in ihrer Rotkreuztracht und die vier Mädchen, darunter Irmgard und Anna, gelang es nicht mehr, ein Auto zum Halten zu bringen. Schließlich gaben sie auf und zogen zu Fuß mit dem Treck weiter.
Gegen Abend war plötzlich das Gebrumm von Flugzeugen zu hören. Sie kamen hinter einer Bergkuppe hervor und flogen aus der tief stehenden Sonne wie schwarze Schatten heran. Tiefflieger. Schon bellten die Bordkanonen. Bläuliche Mündungsfeuer blitzten auf. Die Mädchen und alle Menschen im Treck suchten Deckung hinter Felsbrocken, die rechts
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