So weit die Wolken ziehen
»Ein Karnickelbalg. Mein Vater ist Kürschner. Ein schlecht verarbeiteter Karnickelbalg.«
Anna schlug ihr auf die Hand. Frau Hennig starrte sie fassungslos an. Eine Schülerin hatte sie geschlagen! Frau Wisnarek griff ein. »Das werden wir dir nicht durchgehen lassen, verlass dich drauf.«
»Lassen Sie die Mädchen in Ruhe«, herrschte Frau Krase ihre Kollegin an. »Sehen Sie nicht, was mit den Kindern los ist?«
»Doch, ich sehe es. Frech und verlottert«, antwortete Frau Wisnarek. Sie deutete auf den Schlüssel in ihrer Hand. »Wir können den Raum neben dem Wartesaal benutzen.« Sie lächelte Frau Brüggen spöttisch zu. »So geht das. Man muss nur ein bisschen charmant sein.«
Frau Brüggen rief die Lehrerinnen an einem Tisch zusammen und berichtete ihnen von dem Unglück. Frau Wisnarek und ihre beiden Kolleginnen saßen verschreckt und stumm in der Runde. »Wir hatten ja keine Ahnung. So viele Tote!«, stammelte Frau Hennig schließlich und begann zu weinen. Frau Wisnareks Gesicht wurde merkwürdig starr. Frau Weber sagte: »Mir wird schlecht.« Sie stand auf und lief hinaus. Eine ganze Weile blieb es still in der Runde.
»Und wo ist Dr. Scholten? Wo ist Frau Lötsche?«, fragte Frau Wisnarek leise.
Frau Brüggen antwortete: »Dr. Scholten musste dringend noch einmal nach Wilhelmsburg zurück. Wir werden hier in Pöchlarn auf ihn warten. Er hat mir bis dahin die Leitung übertragen. Ich habe mich erkundigt, wie wir am besten nach Maria Taferl kommen. Keiner konnte mir eine Antwort geben. Vielleicht habe ich die falschen Leute gefragt. Warten wir also auf Dr. Scholten. Er wird sicherlich bald eintreffen.«
»Ich habe mich auch erkundigt. Allerdings bei den richtigen Leuten«, sagte Frau Wisnarek. »Um vierzehn Uhr geht ein Zug über Linz mit Anschluss nach Salzburg. Wir«, sie zeigte auf ihre beiden Kolleginnen, »wir sind dafür, diesen Zug zu nehmen. Bad Reichenhall im Altreich ist von dort aus nur einen Katzensprung entfernt. Was sagen Sie dazu?«
»Wir sind von der Gebietsleitung angewiesen worden, in Maria Taferl Quartier zu nehmen. Das hat Dr. Scholten mir ausdrücklich gesagt. Es fehlen noch viele unserer Schülerinnen. Frau Lötsche und die anderen werden sich bestimmt daran halten, dass wir uns entweder hier oder spätestens in Maria Taferl treffen.«
»Natürlich, unser neuer Feldwebel hat gesprochen«, sagte Frau Wisnarek und verdrehte die Augen. »Die anderen Gruppen sind vermutlich längst Richtung Salzburg gefahren. Von Frau Theiß und ihrer Gruppe hoffe ich es jedenfalls.«
Die Mädchen hatten das Gespräch mitbekommen. Irmgard Zarski ging zu dem Lehrerinnentisch und sagte: »Wir Mädchen tun das, was Dr. Scholten angeordnet hat. Er hat den Überblick.«
Frau Wisnarek zog ein finsteres Gesicht und sagte: »Die Pipimädchen scheinen ja hier das Sagen zu haben.«
Schließlich erreichte auch Frau Lötsche mit ihrer Gruppe St. Pölten. Sie eilte die Treppe zur Bahnhofshalle hinauf und drehte sich oben noch einmal um, um den Kindern zu sagen, dass sie an der Treppe auf sie warten sollten. Ihr Blick fiel auf Dr. Scholten, der am Tisch vor der Konditorei saß.
Sie rannte auf ihn zu und umarmte ihn heftig. Der nahm das etwas steif hin. Noch nie vorher hatte ihn eine Kollegin in den Arm genommen.
Er berichtete ihr, dass aus seiner Gruppe nur vier Mädchen mit Frau Brüggen Richtung Maria Taferl vorausgefahren seien. Dreizehn Schülerinnen habe ein schreckliches Unglück getroffen. Die Mädchen seien umgekommen.
Frau Lötsche musste sich setzen. Ihre Lippen bebten. »Fürchterlich, Dr. Scholten. Das ist ja fürchterlich«, flüsterte sie.
Sie standen beide auf. Jetzt legte Dr. Scholten den Arm um sie. Was sollte er auch sagen?
»Und die anderen? Die Überlebenden? Wo sind die?«, fragte Frau Lötsche, als sie sich wieder ein wenig gefasst hatte.
»Ich weiß es nicht. Hoffentlich finden wir sie bald. Die Gruppe von Frau Wisnarek und den anderen ist schon im Treck auf Frau Brüggen getroffen.«
»Die jungen Kolleginnen bewähren sich ganz gut, nicht wahr?«, sagte Frau Lötsche.
Dr. Scholten schüttelte den Kopf. »Sie haben sich nicht davon abhalten lassen, in der Stadt in ein Friseurgeschäft zu gehen und sich die Haare legen zu lassen. Sie haben Frau Brüggen mit den Kindern allein gelassen.«
Frau Lötsche blickte ihn ungläubig an. »Das kann doch nicht wahr sein.«
Er hob hilflos die Hände. Sie gingen zum Bahnhofsgebäude hinüber und führten die Gruppe in die
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