So weit die Wolken ziehen
am besten nach Maria Taferl kommen. Dieser Ort ist von der Gebietsleitung als unser nächstes Quartier bestimmt worden. Ich komme so schnell wie möglich nach. Vielleicht hole ich Sie ja ein, aber warten Sie unterwegs nicht auf mich. Spätestens in Maria Taferl bin ich wieder bei Ihnen.«
Alle Schülerinnen fanden im Zug einen Platz. Frau Brüggen und Schwester Nora stiegen erst ein, als der Pfiff zur Abfahrt schrillte. Der Zug fuhr an. Dr. Scholten schaute ihm nach, bis er in der Ferne verschwand. Mutlosigkeit überkam ihn, als er allein auf dem Bahnsteig stand. Niedergeschlagen ging er zurück in die Halle und erkundigte sich am Fahrkartenschalter nach einer Möglichkeit, schnell zum Rathaus zu kommen.
»Vor dem Bahnhof steht ein Mercedes«, sagte die Frau, die die Fahrkarten verkaufte. »Der hat eben noch einen Herrn vom Rathaus mit viel Gepäck hergebracht. Vielleicht nimmt der Fahrer Sie mit.«
»Die Ratten verlassen das sinkende Schiff«, murmelte Dr. Scholten. Aber dann fiel ihm ein, dass er sein Parteiabzeichen auf den Mist geworfen hatte. Gehörte er nicht selbst zu den Ratten?
Der Fahrer stand vor seinem Wagen und rauchte eine Zigarette. »Kein Problem«, sagte er, als Dr. Scholten ihm seine Notlage geschildert hatte. Er schnipste die Glut von der Zigarette und steckte die Kippe in ein Blechetui. »Tabak ist rar. Steigen Sie ein. Es dauert nur ein paar Minuten, bis wir am Ziel sind.«
Wenig später hielt der Wagen vor dem Haupteingang des Rathauses. Dr. Scholten gab dem Fahrer zum Dank zwei Zigaretten und stieg aus.
Der Hausmeister lachte auf, als er Dr. Scholten erkannte. »Kommen Sie herein, Herr Professor«, sagte er. »Ich habe da etwas für Sie.« Er verschwand kurz in seiner Pförtnerkabine und holte das Köfferchen. »Vergesslich, Herr Professor, nicht wahr?« Er übergab den Koffer und streckte Dr. Scholten mit einem breiten Lächeln seine geöffnete Hand entgegen. Der verstand die stumme Aufforderung nicht gleich, und erst als der Hausmeister seine Hand nicht zurückzog, wurde ihm klar, was der Mann wollte. Er suchte in seiner Geldbörse nach einem Trinkgeld und gab ihm ein Zweimarkstück.
»Wollen S’ zurück zur Station, Herr Professor?«
»So schnell wie möglich.«
»Können S’ mit einem Fahrrad umgehen, Herr Professor?«
»Zu Hause bin ich täglich drei Kilometer zur Schule geradelt. Soll ja jung halten.«
»Kommen S’ mit«, forderte der Hausmeister ihn auf. Dr. Scholten folgte ihm in den Keller. Dort standen mehrere Fahrräder.
»Sind unsere Diensträder, Herr Professor. Suchen Sie sich eins aus. Von unserem Bahnhof fährt vor dem Abend wahrscheinlich kein Zug mehr. Die Tiefflieger, wissen S’, Herr Professor. Aber auch bis St. Pölten kann man es leicht mit dem Rad schaffen. Sie müssen mir in die Hand versprechen, Herr Professor, dass Sie das Rad an der Gepäckannahme abgeben. Die Frau, die dort Dienst tut, kennt mich. Ich habe sie vor zweiunddreißig Jahren geheiratet.« Er schmunzelte. Wieder streckte er seine Hand aus und noch einmal wechselte ein Zweimarkstück den Besitzer.
Dr. Scholten lieferte das Fahrrad in St. Pölten ab, wie er es versprochen hatte.
»Aufbewahrungsgebühr eine Mark«, sagte die Frau und verzog dabei keine Miene. Er zahlte und musste lachen über so viel Geschäftssinn.
Für Frau Brüggen und ihre Gruppe ging es am Anfang ohne Schwierigkeiten voran. Es gab nur einen größeren Aufenthalt wenige Kilometer vor St. Pölten. Frau Brüggens Befürchtungen, es könne zu einem Tieffliegerangriff kommen, bestätigten sich nicht. Sie erreichten St. Pölten gegen Mittag.
»Ich bin zuversichtlich, dass dieser Tag glücklicher verlaufen wird als die Ostertage«, sagte sie zu Schwester Nora.
Sie gingen auf den Bahnsteig. Zwanzig Minuten vergingen, doch ein Zug nach Pöchlarn kam nicht in Sicht. Frau Brüggen schaute mehrmals ungeduldig auf die Bahnhofsuhr. Plötzlich sah sie einige Mädchen über die Treppe auf den gegenüberliegenden Bahnsteig kommen. Sie trugen Kaninchenfelljacken, darunter hatten sie mit Stricken graue Militärdecken gebunden. Ihre bloßen Beine steckten in groben Soldatenstiefeln. Frau Brüggen stockte der Atem. Ihre Schülerinnen! Frau Krase kam als Letzte auf den Bahnsteig.
»Hallo, Luise, hier sind wir!, wollte sie hinüberrufen, aber ihre Stimme versagte.
Auch Anna hatte die Gruppe gesehen. »Lydia!«, schrie sie. »Lydia!«
Nur mit Mühe konnte Schwester Nora das Mädchen davon abhalten, quer über die Gleise zu ihrer
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