So weit die Wolken ziehen
gelagert waren. Während sie sich für die Nacht einrichteten, ging Frau Lötsche mit zwei Mädchen in das Zentrum der kleinen Stadt. In der Nähe des Rathauses, nicht weit vom Fluss, fanden sie eine Bäckerei, die noch geöffnet hatte. Für ihre Lebensmittelmarken war die Bäckersfrau bereit, ihnen fünf frische Brotlaibe zu überlassen. Auch zeigte sie ihnen ein Geschäft in der Nähe, in dem Milch und Käse verkauft würden. Tatsächlich bekamen sie einen runden Kümmelkäse und genügend Milch. Der Junge, der sie bediente, fragte nach der Milchkanne. Als sie ihm sagen mussten, dass sie keine Kanne besäßen, holte er aus einem Raum hinter dem Laden einen Blecheimer, in dem Marmelade gewesen war. Er habe ihn ausgewaschen, beteuerte der Junge. Er schüttete, ohne ein Litermaß zu benutzen, nach Gutdünken Milch in den Eimer, drückte den Blechdeckel drauf und gab ihn über den Tresen.
Das Brot wurde in ungefähr gleich große Stücke geschnitten und verteilt. Frau Lötsche mahnte, nicht alles auf einmal zu essen. Niemand wisse, ob sie am nächsten Morgen ein Frühstück bekommen könnten.
Im Lehrerzimmer der Schule fanden sich Becher. Einige Mädchen behaupteten später, die Milch habe nach Pfefferminz geschmeckt, andere sagten, sie hätten einen leichten Erdbeergeschmack auf der Zunge gehabt. Trotzdem, es blieb kein Tropfen übrig.
Die Hälfte der Mädchen verschmähte den Käse. Die, die sich von dem strengen Geruch nicht abschrecken ließen, leckten sich später die Lippen, so gut hatte ihnen der Käse geschmeckt.
Sie verbrachten eine ruhige Nacht. Nur zweimal schrie ein Mädchen im Traum auf, aber Frau Lötsche beruhigte es und erinnerte daran, dass die Schreckensfahrt gut ausgegangen sei. Sie ließ die Kinder länger schlafen und wies sie an, die günstige Gelegenheit für eine gründliche Morgenwäsche zu nützen. Es war schon später Vormittag, als die Gruppe sich zu Fuß auf den Weg nach Wilhelmsburg machte.
Dr. Scholten brauchte am nächsten Morgen nicht im Rathaus anzurufen. Als er mit seiner Gruppe zum Bahnhof in Wilhelmsburg kam, trafen sie dort Frau Brüggen und ihre Mädchen und auch die Gruppe, die zu Frau Wisnarek gehörte. Sie waren mit den Kindern am Vortag nur bis hinter Lilienfeld gekommen und hatten in einer Scheune übernachtet. Als sie Wilhelmsburg erreichten, lag schon ein Fußweg von fünfzehn Kilometern hinter ihnen. Einige Kinder hatten noch Strohreste in ihren Haaren.
Frau Brüggen rief schon von Weitem: »Habt ihr Ruth, Gitta und Hertha nicht gesehen?«
Ruth rannte ihr entgegen. Frau Brüggen bekam weiche Knie. Sie setzte sich auf die Bank, die auf dem Bahnhofsvorplatz stand. Auch Gitta und Hertha gingen zu ihr. Sie schloss die Kinder in die Arme und stammelte: »Wie hätte ich ohne euch euren Eltern gegenübertreten können.«
»Wo ist denn Frau Wisnarek?«, fragte Dr. Scholten besorgt.
»Die ist mit Frau Hennig und Frau Weber auch hier in Wilhelmsburg«, sagte Frau Brüggen verbittert. »Wir kamen zufällig an einem Frisiersalon vorbei. Der Laden wurde gerade geöffnet. Sie sagten, bis zur Abfahrt des Zuges wäre noch Zeit genug. Sie müssten sich erst mal die Haare machen lassen und kämen später nach.«
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, Frau Brüggen?«
»Ich wünschte, es wäre so.«
Dr. Scholten schüttelte den Kopf und sah auf die Uhr. »Wir müssen zum Zug, Frau Brüggen. Er könnte ja pünktlich einlaufen. Spätestens in Pöchlarn reden wir darüber und überlegen, wie wir dem unmöglichen Verhalten der Damen begegnen.«
Sie waren gerade auf dem Bahnsteig angekommen, als der Zug nach St. Pölten pünktlich auf die Minute einlief. Frau Wisnarek und ihre beiden Kolleginnen blieben verschwunden.
Plötzlich blieb Dr. Scholten stehen und rief: »Hat jemand meinen kleinen Koffer gesehen?« Er wartete die Antwort nicht ab, weil ihm einfiel, dass er diesen Koffer im Rathaus vergessen hatte. All die wichtigen Papiere, die Lebensmittelkarten, die Klassenbücher, die Bescheinigungen! War der unersetzliche Koffer für immer verschwunden?
Dr. Scholten rief Frau Brüggen und Schwester Nora zu sich und erklärte ihnen die Situation. »Übernehmen Sie die Leitung, Frau Brüggen. Ich muss zum Rathaus zurück. Mein kleiner Koffer mit allen Unterlagen steht hoffentlich noch dort. Ohne die Papiere kommen wir in Teufels Küche. Sie wissen ja, dieser Zug endet in St. Pölten. Dort soll vom selben Bahnsteig der Zug nach Pöchlarn abfahren. Erkundigen Sie sich in Pöchlarn, wie Sie
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