So weit die Wolken ziehen
dass Sie dort unterkommen?«
»Alles andere wäre sehr, sehr schlimm.«
»Kommen Sie rein zu mir. Aber lassen Sie sich nicht von unserem Rotkäppchen, dem Bahnhofsvorsteher, erwischen. Dem läuft ohnedies zweimal am Tag die Galle über.« Sie zeigte auf einen Telefonapparat in ihrem Schalterraum.
Dr. Scholten stellte sich hinter eine Schrankecke, damit er von draußen nicht entdeckt werden konnte. Er wählte die Telefonnummer des Bürgermeisters von Maria Taferl und bekam sofort eine Verbindung.
»Sie sind schon avisiert. Die Gebietsleitung hat mich informiert, dass Sie heute kommen werden. Ich habe gleich im Haus Bescheid gegeben. Man wird Ihnen ein Abendessen richten. Wann sind Sie hier?«
»Ich stehe noch in Pöchlarn im Bahnhof und weiß nicht, wie ich zu Ihnen kommen kann.«
»Machen Sie sich zu Fuß auf den Weg. In drei Stunden haben Sie es geschafft.«
»Aber unser Gepäck«, warf Dr. Scholten ein. »Die Mädchen sind seit dem frühen Morgen unterwegs. Sie sind vollkommen fertig.«
Der Bürgermeister antwortete nicht. War die Leitung unterbrochen? »Hallo«, rief Dr. Scholten laut in die Muschel, »sind Sie noch dran?«
»Sicher. Einen Augenblick, bitte.«
»Und?«
»Also gut. Deponieren Sie Ihr Gepäck im Bahnhof. Ich werde im Laufe des Nachmittags einen Wagen auftreiben und es abholen lassen. Bis nachher.«
Es knackte in der Leitung. Das Gespräch war beendet.
»Der hat gut reden«, sagte Dr. Scholten. »Wohin im Bahnhof mit dem ganzen Zeug?«
Die Frau mischte sich ein. »Wir haben hier noch einen alten Abstellraum. Er wird längst nicht mehr benutzt. Holen Sie sich im Wartesaal an der Theke den Schlüssel. Wenn Sie die Bedienung recht freundlich bitten und ihr ein Trinkgeld geben, dann wird sie Ihnen den Schlüssel aushändigen. Zwei Mark dürften genügen.«
»Heute scheint mein Zweimarkstag zu sein.« Dr. Scholten verzog seine Lippen, aber sein Lachen wirkte gequält. Er fingerte ein Zweimarkstück aus seiner Geldbörse, doch die Frau wollte das Geld nicht annehmen. »Mir brauchen Sie nichts zu geben. Ich bin 1938 von Hannover hierhergekommen und wollte den sogenannten Anschluss Österreichs ans Reich mitmachen. Ich habe einen Mann aus der Ostmark geheiratet. War, glaub ich, ein Fehler.« Sie lachte. »Nein, meine Heirat nicht. Aber das mit dem Anschluss ans Reich. Meinen Sie nicht auch?«
»Eigentlich ist 1938 der alte Traum von 1848 in Erfüllung gegangen, ein einig Großdeutsches Reich«, antwortete Dr. Scholten. »Aber wie es manchmal so geht, man träumt und schreckt plötzlich auf und ist enttäuscht, dass bei Tageslicht alles ganz anders aussieht. Jedenfalls danke ich Ihnen, dass ich telefonieren durfte. Was bin ich Ihnen schuldig?«
»War das Gespräch etwa kein Dienstgespräch, wie?«
»Selbstverständlich war es eins. Gespräche mit Bürgermeistern sind immer Dienstgespräche.«
»Also, dann lassen Sie es gut sein. Aber zünden Sie eine Kerze vor dem Gnadenbild in Maria Taferl für mich an, für die Moni Habermeier. Die Gottesmutter kennt mich noch. Weil ich ja im Herbst bei ihr war. Und sagen Sie ihr, dass ich ihr schön danke für ihre Fürsprache.«
Was habe ich gesagt, dachte Dr. Scholten. Die Welt besteht nicht aus lauter Schurken.
An der Theke im Wartesaal fragte er nach dem Schlüssel und legte der Frau das Zweimarkstück hin.
»Ist offen«, sagte sie. »Gehen Sie nur rein. Wird allerdings eng werden.«
In dem muffigen Abstellraum sprangen alle auf, als Dr. Scholten eintrat. Sein Blick fiel auf die Mädchen, die den Unfall überlebt hatten. Sie gingen auf ihn zu und drängten sich um ihn.
»Ich hab euch wieder«, rief er. »Und was für herrliche Pelzjacken habt ihr an.«
Er trat einen Schritt zurück, nahm sein Taschentuch und schnäuzte sich.
»Sie können ruhig heulen«, sagte Frau Krase. »Tränen der Erleichterung natürlich.« Einen Augenblick später fügte sie hinzu: »Leider auch bittere Tränen. Liegen so dicht beieinander, das Leben und der Tod.«
Dr. Scholten rief Frau Lötsche mit ihrer Gruppe herein und sagte zu den Lehrerinnen: »Wir müssen bald aufbrechen.«
»Eigentlich müsste ich auf Frau Theiß und die Kinder warten, Dr. Scholten«, sagte Frau Krase.
»Die sind wahrscheinlich längst auf dem Weg nach Maria Taferl«, sagte Dr. Scholten.
Frau Wisnarek war anderer Meinung. »Frau Theiß und die anderen Gruppen sind bestimmt nach Salzburg gefahren. Das sollten wir auch tun.«
»Wir müssen mindestens noch bis zum Nachmittag hier in Pöchlarn
Weitere Kostenlose Bücher