Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
Vom Netzwerk:
einer kleinen Stärkung ein.«
    Dr. Scholten sagte leise: »Das ist jetzt genau das Richtige. Das alles ist ja nur noch im Suff zu ertragen.«
    Frau Krase lachte. »Das müssen ausgerechnet Sie sagen, Herr Doktor, Sie, der in der vorigen Woche noch behauptet hat, er habe sich noch niemals in seinem Leben einen Rausch angetrunken.«
    »Jetzt habe ich einen nie gekannten gewaltigen Durst, Frau Kollegin«, sagte Dr. Scholten, hakte sich bei Frau Krase unter und ging mit ihr zu den anderen.
    Es war ein kalter, klarer Tag. Ein paar Mädchen standen, eingemummt in ihre Wintermäntel, auf der Terrasse. Die Luft zitterte von einem tiefen Brummen. Die Mädchen beobachteten, wie hoch über dem Berg Bombergeschwader in sechs großen Pulks auf Wien zuflogen.
    »Das sind mindestens dreihundert Flugzeuge«, sagte Irmgard zu Anna. »Lauter viermotorige Maschinen.«
    Anna versuchte, die im Sonnenlicht silbern glänzenden Flugzeuge eines Pulks zu zählen, doch trotz der Kondensstreifen, die die Maschinen wie Kometenschweife hinter sich herzogen, gelang ihr das nicht. »Mindestens dreihundert«, bestätigte sie. »Fliegende Festungen. Amerikaner. Die armen Menschen, die dort leben, wo sie die Bomben abwerfen.«
    Ruth, die gleich nach dem Silentium aus dem Tannenhaus herübergekommen war, fragte: »Müssen wir nicht in den Luftschutzraum, wenn sie kommen?«
    »Nicht tagsüber. Nicht wenn wir sie dort weit über dem Berg fliegen sehen«, antwortete Irmgard. »Dann wollen sie nach Wien oder nach Wiener Neustadt.«
    In das gleichmäßige Brummen der Pulks mischte sich ein anderer, schärferer Ton, setzte kurz aus, klang erneut auf, lauter als vorher.
    »Da, da rechts vom Berg!«, rief Irmgard.
    Nun sahen es alle. Viel größer als die sehr hoch fliegenden Bomber, langsamer auch, kam ein einzelnes Flugzeug ins Blickfeld, noch weit hinter den Türmen der Kirche, aber doch schon auf dieser Seite des Bergs. Es zog eine schwarzgraue Rauchfahne hinter sich her.
    »Getroffen! Abschuss! Der kommt nicht mehr bis Wien!«, jubelten einige.
    »Da, Fallschirme! Die sind abgesprungen«, sagte Anna. Ziemlich hoch über dem Flugzeug sah man zuerst vier weiße Fallschirme herunterschweben, einen Augenblick später einen fünften. »Einer fehlt noch! Die haben sechs Mann Besatzung.«
    Die Maschine zog über dem Wald hinter dem Kloster ihre Bahn. Die Motoren stotterten.
    »Da! Da springt noch einer.«
    Der Fallschirm öffnete sich und wurde vom Wind in Richtung Quellenhof getrieben. Der Bomber sank immer tiefer und flog langsam und schwerfällig noch ein Stück über den Wald. Dann entschwand er den Blicken der Mädchen. Kurz darauf klang eine Detonation wie ein Donnergrollen zu ihnen herüber. Eine schwarze Rauchwolke, gesäumt von einem brandroten Rand, stieg über die Baumwipfel hoch in das Blau des Himmels. Der Fallschirm war von einem leichten Wind erfasst worden und schwebte auf das Kloster zu. Die khakifarbene Uniform des Piloten war deutlich zu erkennen. Der Fallschirm sank immer tiefer und verschwand schließlich hinter dem Dach des Quellenhofs. Anna, Ruth und ein paar andere Mädchen rannten um das Haus herum zur Straße.
    Frau Lötsche rief: »Zurück ins Haus!« Und als die Mädchen dem Befehl nicht gleich folgten, schrie sie: »Jetzt aber schnell! Oder wollt ihr Stubenarrest?«
    Aber die Mädchen waren schon um die Ecke gebogen. Der Fallschirm lag keine zwanzig Meter entfernt mitten auf der Straße. Der Pilot war offenbar gestürzt, hatte sich aber aufgerappelt und befreite sich von den Halteleinen. Er schien benommen zu sein. Schwankend erreichte er auf der anderen Straßenseite die Treppe zur Orangerie und hockte sich auf die unterste Stufe.
    »Guck mal«, flüsterte Irmgard. »Der ist noch ganz jung. Der ist nicht viel älter als wir.«
    Anna überquerte die Straße. Die anderen folgten ihr zögernd. Der Pilot, ein Milchbart noch, nahm ein Zigarettenpäckchen aus der Brusttasche seiner Uniform, fingerte eine Zigarette heraus und steckte sie sich zwischen die Lippen. Seine Hände zitterten so stark, dass es ihm nicht gelang, ein Streichholz anzureißen. Er versuchte es ein Mal, ein zweites Mal, dann fiel das Streichholz auf die Erde. Da nahm Anna ihm das Streichholzmäppchen aus der Hand. Er zuckte zusammen und schaute ängstlich auf. Anna hielt ihm ein brennendes Streichholz an die Zigarette und er sog den Rauch tief ein.
    Inzwischen hatte auch Frau Lötsche die Straße überquert. »Bist du denn völlig verrückt geworden«, fuhr sie Anna

Weitere Kostenlose Bücher