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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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an. »Das ist einer von denen, die ihre Bomben auf unsere Städte werfen. Auf eure Eltern.«
    »Ist doch noch fast ein Junge«, sagte Anna.
    Der Pilot stieß leise ein paar Worte hervor.
    »Das ist kein Englisch, oder?« Frau Lötsche war überrascht.
    »Nein.« Anna beugte sich zu ihm vor. Wieder flüsterte er etwas.
    »Das ist, glaube ich, Polnisch«, sagte sie.
    »Polnisch?«, wunderte sich Frau Lötsche. »Seit wann kannst du Polnisch?«
    »Ich kann den Mann nicht genau verstehen, aber es ist Polnisch. Ich weiß, wie das klingt.«
    »Lutka!«, rief Ruth, »Lutka kann ihn verstehen.« Sie rannte ins Haus und holte die Polin aus der Küche. Frau Zitzelshauser folgte ihnen.
    Lutka sprach den Piloten an.
    Er schaute auf und antwortete auf ihre Fragen.
    Auch der Direktor kam und wies die Mädchen barsch in die Halle zurück. »Ich habe schon die Polizeistation im Dorf benachrichtigt«, sagte er. »Man hat mich informiert, dass die Beamten bereits unterwegs sind.«
    Frau Lötsche stand hinter der Polin und befahl ihr: »Schluss jetzt, Lutka. Geh sofort ins Haus zurück.« Und zum Direktor gewandt, sagte sie: »Wer weiß, was die beiden miteinander bereden.«
    Lutka weigerte sich und ließ nicht davon ab, mit dem jungen Piloten zu sprechen. »Mowa ojczysta, Sprache von Heimat«, sagte sie.
    Frau Lötsche versuchte, Lutka an der Schulter wegzuziehen, aber Lutka schlug die Hand heftig weg und schimpfte laut auf die Lehrerin ein.
    »Lauter polnische Flüche«, flüsterte Anna Irmgard zu.
    Lutka und Frau Lötsche starrten sich wütend an.
    Zwei Gendarmen kamen und sprangen von ihren Fahrrädern. Der ältere zog seine Pistole und richtete sie auf den Piloten. Der jüngere riss ihn hoch und durchsuchte ihn.
    »Keine Waffen«, sagte er.
    Der Pilot zog seinen Ausweis aus der Innentasche seiner Jacke und reichte ihn dem älteren Polizisten. Der setzte seine Brille auf und las: »Stan Bronski. Ist neunzehn Jahre alt. Kommt aus Ohio. Wir nehmen ihn mit.« Zu Direktor Aumann sagte er: »Sie können doch sicher Englisch sprechen. Sagen Sie ihm, dass er jetzt Kriegsgefangener ist.«
    »Weiß er doch längst«, murmelte Anna.
    Frau Lötsche wies sie zurecht. »Vorlautes Blag. Halt den Mund!«
    Der Direktor sagte, er unterrichte Mathematik und Deutsche Geschichte und seine Englischkenntnisse seien begrenzt.
    Anna sprang ein und stotterte etwas von »war« und »prisoner«.
    »Ich sage ihm.« Lutka redete wieder mit dem Piloten.
    »Hör auf damit!«, rief Frau Lötsche erbost.
    »Nazi-Gans, dämliche«, fauchte Lutka. Ihre Augen funkelten und sie schien außer sich zu sein.
    »Lutka, beherrsch dich!«, rief Frau Zitzelshauser.
    »Jetzt reicht’s aber«, mischte der Direktor sich ein. »Sofort alle ins Haus.« Zu Frau Lötsche sagte er: »Das muss den Behörden gemeldet werden. Das wird ein Nachspiel haben.«
    Der Polizist, der den Piloten durchsucht hatte, wandte sich an den Direktor. »Ist das wirklich nötig? Wenn man erregt ist, kommt einem schon mal ein falsches Wort über die Lippen.«
    »Aber Kollege!«, tadelte ihn der andere Polizist. »Das können wir uns von einem Polackenweib nicht gefallen lassen.«
    Frau Zitzelshauser schüttelte den Kopf. »Lutka, Lutka, was machst du nur für Sachen?«
    »Ich will wegen des Polenmädchens nicht in Schwierigkeiten kommen«, sagte der Direktor. »Ich werde beim Ortsgruppenleiter anrufen.«
    Als die Mädchen beim Abendessen saßen, fuhr ein Auto vor. Zwei Zivilbeamte stiegen aus und holten Lutka aus der Küche. Sie packten sie an den Armen und führten sie durch den Speisesaal hinaus. Frau Zitzelshauser rief ihnen nach, dass Lutka noch ihren Mantel holen müsse, doch die Männer winkten ab. Die Autotür wurde hinter Lutka zugeschlagen. Sie fuhren in Richtung Tal davon und verschwanden in der Dunkelheit.
    »Das arme Ding«, sagte Frau Zitzelshauser leise. »Die kommt nie mehr zurück.« Sie machte sich Vorwürfe. Der Ortsgruppenleiter war ihr gut bekannt. Ihr Vater und er, der Loisl, hatten miteinander Karten gespielt. Wenn sie ihn angerufen hätte … Vielleicht hätte das genügt, um die Sache unter den Tisch fallen zu lassen.
    Eines Tages wurde Ruth überraschend von Esther Salm eingeladen. Die Lagermädelführerin erlaubte ihr, bis zum Abend zu bleiben. Esther wohnte mit ihrer Mutter allein in dem Haus am Hang. Der Schotterweg dorthin zweigte von der Landstraße ab und führte ziemlich steil bergan. Man brauchte ungefähr zehn Minuten.
    Frau Salm war eine schlanke Frau von etwa vierzig

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