So weit die Wolken ziehen
wegen seines Sterbens für den Glauben.«
»Und wie kann Ruth das helfen?«
»Nun, es wird wohl niemand heiliggesprochen, der sich danach drängt, für den Glauben zu leiden oder sogar zu sterben. Zum Beispiel so zu beten, dass die anderen wütend werden.«
»Also soll ich gar nicht?« Ruth schaute den Pater misstrauisch an.
»Doch, doch. Als ich 1914 nach Ausbruch des Krieges Soldat werden musste, haben meine Kameraden mich belächelt und dann und wann auch verspottet, weil ich vor dem Essen aufstand und betete. Da hat mir mein Unteroffizier den Rat gegeben, es so zu machen wie er. Er zeichnete vor dem Essen mit dem Löffel oder mit der Gabel ein großes Kreuz auf die Speisen. Ich hab es dann auch so gehalten. Sicher, dieser und jener hat es bemerkt, aber der Spott hat allmählich aufgehört.«
»Und das ist dann auch ein Gebet?«
»Ich glaub schon, Ruth. Aber ich hab mein Beten nicht mehr so zur Schau gestellt. Und das hat mir geholfen.«
Vielleicht versuch ich es auch. Aber ob meine Mutter damit einverstanden wäre?, dachte Ruth.
Der Pater führte die beiden noch kurz durch die Kirche. An den Wänden hingen Krücken und in Glasvitrinen waren Schmuckstücke aufbewahrt, selbst die Nachbildung eines kleinen Menschenarms aus Silber, kurze Briefe auch.
»Das sind die Dankesgaben vieler Menschen, die glauben, dass ihnen in Maria Quell geholfen worden ist«, erklärte Pater Martin.
»Glauben Sie das auch?«, fragte Anna. »Ich meine, das mit den Wundern?«
Der Pater hob die Schultern. »Das muss jeder mit sich selbst ausmachen«, sagte er. »Aber ich bin mir ganz sicher, dass viele Menschen getröstet von diesem Ort wieder nach Hause gehen konnten.«
»Jetzt noch schnell die Quelle«, bat Anna. »Ruth muss in ein paar Minuten wieder im Tannenhaus sein.«
Der Altar war nicht ganz bis an die Chorwand der Kirche gebaut worden. Dahinter gab es einen Durchgang. An der Rückseite des Altars befand sich ein halbrundes Becken aus gelbem Marmor, in das aus einem silbernen Röhrchen ein dünner Wasserstrahl floss. Ein Abfluss dicht unter dem Beckenrand verhinderte, dass das Wasser überlief. Anna tauchte ihre Finger in das Wasser und berührte dann ihre Stirn.
»Was es mit der Marienquelle auf sich hat, das muss ich euch später erzählen. Denn das ist eine längere Geschichte. Und ihr wisst ja, wenn jemand bei euch die Zeit nicht einhält, dann …«
»Danke, Pater Martin«, sagten die Mädchen.
Direktor Aumann und Frau Lötsche standen am Fenster und beobachteten, wie Anna die Kirche verließ und auf den Quellenhof zukam.
»Jetzt haben wir gedacht, wir hätten unsere Schülerinnen dem staatsfeindlichen Erziehungseinfluss mancher Eltern und vor allem der Kirche entzogen, und nun haben manche nichts Besseres zu tun, als zu diesem Pater Martin zu rennen«, sagte Frau Lötsche bitter.
Der Direktor erwiderte: »Nun, immerhin sind die Schülerinnen hier vor den Terrorangriffen auf unsere Städte in Sicherheit. Ich glaube nicht, dass es hilfreich ist, wenn wir ihnen verbieten, zur Kirche hinüberzulaufen. Wir müssen unsere Jugend in kleinen Schritten auf den richtigen Weg bringen.«
»Und was, bitte, bedeutet das konkret?«
»Zum Beispiel, dass wir den Mädchen viele verlockende Freizeitangebote präsentieren. Wenn wir am Sonntagmorgen lediglich den Flaggenappell ansetzen, kommen wir unseren vaterländischen Erziehungszielen nur wenig näher. Er ist für die meisten wohl nur eine lästige Pflicht. Mit einem Tropfen Honig, verehrte Frau Lötsche, kann man mehr Fliegen fangen als mit einem ganzen Fass voll Essig.«
Zum Abendessen gab es Haferflockensuppe und eine Scheibe Brot, dünn mit Kunsthonig bestrichen.
Ruth zeichnete mit dem Löffel von Tellerrand zu Tellerrand das Kreuz in die Suppe. Die Mädchen, die neben ihr am Tisch saßen, wunderten sich, aber die Hänseleien wurden seltener und hörten bald ganz auf.
Mitte November begann es zu schneien. Tagelang blieben die Berge in eine grauschwarze Wolkendecke gehüllt, die bis zu den Spitzen der Kirchtürme herunterreichte und aus der ohne Unterlass dicke, schwere Flocken zur Erde segelten. Die Zugänge zum Quellenhof und der Weg zum Tannenhaus mussten zweimal am Tag freigeschaufelt werden. Am Anfang war das für die Schülerinnen noch ein Vergnügen, aber je höher die Schneewände zu beiden Seiten der Wege wuchsen, desto mehr wurde ihnen diese Arbeit zur Last. Als sich schließlich niemand mehr freiwillig zum Schaufeln meldete, wurde jeden Abend für den
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