So weit die Wolken ziehen
Jahren. Durch ihr kurz geschnittenes schwarzes Haar zogen sich die ersten grauen Strähnen. Die dunklen Augen wurden von schmalen Brauen hoch überwölbt. Frau Salm widmete sich zwar den Kindern, stellte ihnen auch ein paar Plätzchen hin und beteiligte sich ab und zu an ihren Spielen, aber Ruth fand, dass sie dabei merkwürdig ernst blieb. Selbst wenn sich ihre Lippen zu einem freundlichen Lächeln kräuselten, schauten ihre Augen stets ein wenig traurig.
Bei Ruths erstem Besuch hatte Frau Salm sie in ein längeres Gespräch verwickelt. Später sagte Esther zu Ruth: »Meine Mama hat dich ganz schön ausgefragt, nicht?«
»Hab ich nicht gemerkt, aber ich glaub, es stimmt«, antwortete Ruth. Am besten gefiel es Ruth, dass Esthers Mutter sich an das große schwarze Klavier setzte. Sie zündete die beiden Kerzen an, die vorn in den Halterungen angebracht waren, blätterte dann in Notenheften, schlug schließlich eines auf und begann zu spielen. Ruth hatte den Eindruck, dass sie überhaupt nicht auf die Noten schaute, sondern dass ihre Finger die Tasten wie im Traum berührten.
Die Kinder hörten zu spielen auf. Wie gebannt lauschten sie den zarten, manchmal auch wild aufbrausenden Melodien. Nach wenigen Minuten hörte Frau Salm mitten im Spiel auf, löschte die Kerzen und schaute zu den Kindern hinüber.
»Hat es euch gefallen?«, fragte sie.
Ruth nickte heftig. »Aber es klang so traurig.«
»Das Stück hat Ludwig van Beethoven komponiert«, sagte Frau Salm. »Beim nächsten Mal werde ich, wenn du magst, etwas Heiteres spielen. Vielleicht etwas von Esthers Lieblingskomponisten, von Mozart. Aber jetzt wird es Zeit für dich, ins Tannenhaus zurückzugehen. Sie wollen euch dort zu ordentlichen …«, sie stockte, ». . . zu ordentlichen, pünktlichen Menschen erziehen.« Sie gab Ruth die Hand und sagte: »Schön, wenn du bald wiederkommst.«
Ruth hatte sich im Tannenhaus einigermaßen eingelebt. Weil sie aber jeden Morgen kurz vor dem gemeinsamen Frühstück zur Schule ins Dorf hinuntermusste und erst zurückkam, wenn die anderen schon zu Mittag gegessen hatten, blieb sie eine Fremde. Frau Hirzel stellte ihr zwar das Mittagessen zurück, aber meist war es nicht mehr richtig warm. Manchmal fand Ruth in ihrer Stube die Sachen aus dem Spind herausgerissen und auf ihr Bett geworfen. Wenn sie nach dem Grund fragte, wurde ihr gesagt: »Musst eben sorgfältiger einräumen.«
Ruth wusste genau, dass sie sich an die vorgeschriebene Ordnung gehalten hatte. Sie beschwerte sich bei der Lagermädelführerin. Die sprach zwar mit den anderen Mädchen der Stube, aber es änderte sich nichts.
Auch bei ihrer Schwester Irmgard fand Ruth keine Unterstützung.
»Das wird sich mit der Zeit schon geben«, sagte Irmgard nur. »Musst dich eben durchbeißen.« Dann ging sie aus dem Zimmer und ließ Ruth einfach stehen.
Anna hatte mitbekommen, wie Irmgard ihre Schwester abgefertigt hatte. »Wie geht es dir mit dem Tischgebet, Ruth?«, fragte sie.
»Frau Lötsche hat es mir verboten. Aber ich tue es trotzdem. Bis auf sonntags esse ich ja allein. Weil ich immer erst gegen halb zwei aus der Schule ins Tannenhaus komme.«
»Und sonntags?«
»Sie lachen mich aus, wenn ich das Kreuzzeichen mache. Manche nennen mich die Betschwester oder das Engelchen.«
Anna sah auf ihre Armbanduhr. »Komm«, sagte sie, »wir gehen zu Pater Martin. Vielleicht weiß der Rat.«
Sie trafen den Pater in der Kirche. Er war dabei, die vielen Kerzen zu ordnen, die vor der kleinen Marienstatue entzündet worden waren. Anna stellte Ruth vor und erzählte dem Pater von den Nöten des Kindes. Er gab eine merkwürdige Antwort. »Wisst ihr, was heute für ein Tag ist?«
»Der 11. November«, sagte Ruth.
»Ach ja!« Anna schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »11. November, Martinstag. Sie haben ja Namenstag, Pater.«
Er lachte und erzählte ihnen von Martin von Tours, von der Winternacht, in der er, damals noch römischer Offizier, seinen Mantel mit einem Bettler geteilt hatte. Pater Martin geriet dabei richtig ins Schwärmen.
Anna unterbrach ihn. »Und was machen wir mit Ruth?«
»Zu allen Zeiten, damals bei den Römern und sogar heute, wurden und werden Menschen auf der Welt umgebracht, weil sie sich offen zu ihrem Glauben an Christus bekannt haben. Die Kirche nennt sie Blutzeugen, Märtyrer. Sie werden als Heilige verehrt. Aber bei Martin ist es zum ersten Mal anders gewesen. Er ist nicht umgebracht worden. Die Kirche verehrt ihn wegen seines Lebens, nicht
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