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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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küsst.«
    Sie zuckte zusammen.
    »Richtig küsst«, wiederholte er leise.
    Sie nickte und schloss die Augen. Dann presste sie die Lippen zusammen und beugte sich vor zu ihm. Er legte seinen Arm um sie und küsste sie hart auf den Mund. Sie spürte seine rauen Lippen und ein Schauer lief über ihren Rücken. Er ließ sie wieder frei. Sie schaute ihn an, ein wenig enttäuscht. Als sie sah, dass er Tränen in den Augen hatte, sagte sie: »Mit deinem Arm, Friedrich, das ist nicht so schlimm. Du findest bestimmt eine, die dich heiratet. Dann habt ihr zusammen drei Arme. Damit kannst du dir die Nägel schneiden, Friedrich, die Krawatte und die Schnürsenkel binden.«
    »Komm«, sagte er. »Ich packe dir die Pflanzkästen auf meinen Flachwagen. Es sind achtundzwanzig Kästen. Die kannst du nicht ins Schloss tragen.«
    Sie luden die Kästen gemeinsam auf.
    »Ich fahr dann los«, sagte sie.
    »Der Wagen muss morgen zurück, Anna. Übrigens, man merkt, dass ihr lange in Maria Quell bei den Patres wart.«
    »Wieso?«
    »Hast gelernt, anderen Menschen Mut zuzusprechen.«
    »Ich schaff den Wagen morgen wieder her, Friedrich.«
    Es war schon zu spät, um an diesem Tag noch mit dem Einpflanzen zu beginnen. Frau Brüggen schaute sich an, was Anna mitgebracht hatte, befühlte die Erde, in die Friedrich die Pflanzen gesetzt hatte, und sagte: »Gesunde Pflanzen. Genau die richtige Größe. Die Erde in den Kästen ist feucht. Morgen Vormittag müssen sie gepflanzt werden.«
    Am nächsten Morgen werkelte Lydia schon vor dem Frühstück an dem Beet. Sie hatte im Haus eine Fabrikrolle starkes graues Nähgarn gefunden und spannte längs über die gesamten fünfunddreißig Meter vier Fäden in genau gleichen Abständen. Damit nicht genug. Alle fünfundzwanzig Zentimeter an beiden Seiten des Beetes entlang trieb sie kurze Aststücke als Pflöcke in den Boden und befestigte auch daran quer über das Beet Fäden. So entstand ein Gitternetz von lauter Rechtecken.
    Anna wunderte sich zunächst über das Fadengespinst, verstand aber dann, was Lydia damit im Sinn hatte. Die Pflanzen sollten in punktgenauen Abständen in den Boden kommen.
    Zu viert setzten sie die Pflanzen: Anna, Lydia, Irmgard und Ruth. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie mit dem Auspflanzen und Angießen fertig waren.
    »Lydia, das wird die korrekteste Pflanzung, die man in Theresienruh je gesehen hat. Alle in Reih und Glied. Daran hätte jeder Feldwebel seine Freude. Da wird selbst Friedrich staunen, wenn er das sieht«, stellte Anna fest.
    »Wer ist Friedrich?«, fragte Lydia.
    »Der Gärtner, der uns die Pflanzen überlassen hat.«
    Stunden später, als Lydia die Fäden sorgfältig wieder eingerollt hatte, bewunderten alle das gelungene Werk. Selbst Frau Egger rang sich ein Lob ab: »Man muss euch nur an die Arbeit setzen, dann wird auch was draus.«
    Schwester Nora hatte ihren Brief an die Reichsleitung mit v. Middelbeck unterschrieben. Das konnte von Middelbeck heißen, musste es aber nicht. »Jetzt brauche ich nur noch ein schönes Kuvert«, sagte sie. Lydia, die am selben Tisch saß und über einer Mathematikaufgabe brütete, schaute auf. Sie erinnerte sich, dass sie in einem ungenutzten Büro in der ersten Etage einen verstaubten Schreibtisch durchstöbert hatte. Sie lief die Treppe hinauf und schaute sich um. Kein Mensch war zu sehen. Leise öffnete sie die Tür. In den Schubladen des Schreibtischs steckten keine Schlüssel, aber sie waren unverschlossen. Lydia zog eine nach der anderen auf. Sie fand allerhand Krimskrams darin, einen Brieföffner aus Elfenbein, Reststücke von Radiergummis, eine Gänsefeder, in der am Kiel eine Schreibfeder befestigt war, vergilbte Kassenzettel, ein stark nach Lavendel duftendes Taschentuch und endlich auch das, was sie zu finden gehofft hatte: drei Briefumschläge aus feinem gelblichem Büttenpapier. Sie nahm einen davon heraus und hielt ihn ins Licht. Theresienruh war in zierlichen verschnörkelten Buchstaben daraufgedruckt. Außerdem konnte man einen Prägestempel mit dem österreichischen Doppeladler erkennen. Sie brachte den Umschlag zu Schwester Nora.
    »Passt ausgezeichnet«, sagte die Schwester und steckte den Brief hinein. »Siegellack wäre jetzt das Tüpfelchen auf dem i«, seufzte sie.
    »Meinen Sie dieses rote Zeug?«, fragte Lydia.
    Schwester Nora nickte.
    »Die Eva Bach, die hat, glaub ich, so was.«
    »Wozu braucht die denn Siegellack?«
    »Gestern hat sie den Lackstift über eine Kerzenflamme gehalten. Als das

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