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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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Zeug dann an der Spitze flüssig wurde, hat sie einen Hauch davon über ihre Zehennägel gestrichen.«
    »Lydia«, sagte die Schwester. »Du hast eine lebhafte Fantasie.«
    »Meine Mutter sagt, ich hätte kein bisschen Fantasie. Aber was ich gesehen habe, das hab ich gesehen.«
    »Hol die Eva her.«
    »Schwester Nora, das möchte ich nicht. Sie weiß dann gleich, dass das mit dem Lack von mir kommt.«
    Schwester Nora selbst bat Eva, sie in ihr Zimmer zu begleiten.
    »Zieh Schuhe und Strümpfe aus, Eva.«
    »Warum, Schwester? Ich hab mir gestern Abend die Füße gewaschen. Und Krätze hab ich auch nicht mehr.«
    »Mach schon, Eva.«
    Eva war verlegen geworden, aber dann streifte sie den Schuh und den Strumpf vom rechten Fuß. Ihr Kopf war kaum weniger rot als die Fußnägel.
    »Das genügt«, sagte Schwester Nora. »Warum färbst du dir deine Zehennägel und nicht die Fingernägel?«
    »Das möchte ich mal erleben, was Frau Lötsche dann mit mir macht. Sie sagt doch immer: Ein deutsches Mädchen raucht nicht und schminkt sich nicht.«
    »Ich brauche deinen Siegellack, Eva.«
    »Schwester …«
    »Keine Widerrede. In einer halben Stunde bekommst du ihn von mir zurück.«
    »Und meine roten Nägel?«, fragte Eva besorgt. »Die sind doch genauso schön wie die von Zarah Leander, oder?«
    »Ich habe keine roten Nägel gesehen, Eva. Wäre ja auch noch schöner, so etwas bei einem deutschen Mädchen.«
    Schwester Nora zwinkerte Eva zu. Wenig später brachte Eva ihr den Siegellack. Dann bat die Schwester Frau Wisnarek, ihr für fünf Minuten ihren Ring auszuleihen. Frau Wisnarek schaute zwar verwundert, fragte aber nicht, was die Schwester damit tun wollte. In den schwarzen Stein war ein Wappen eingeschnitten. Schwester Nora erhitzte den Siegellack und ließ reichlich davon auf den Umschlag tropfen. Dann drückte sie das Wappen in den Lack. Wenn das in Linz keinen Eindruck macht, dann weiß ich es nicht, dachte sie.
    Da sie in der Stadt auch noch versuchen wollte, für die Mädchen neue Schuhe aufzutreiben, fragte sie Irmgard und Anna, ob sie Lust hätten, sie zu begleiten. Das sollte ein Dankeschön für die Arbeit am Salatbeet sein.
    »Dann muss Lydia auch mit«, sagte Irmgard. »Schließlich hatte sie die Idee mit dem Fadennetz.«
    »Und Ruth?«, fragte Anna. »Keine hat so unermüdlich gearbeitet wie die Kleine.«
    Irmgard war nicht begeistert und sagte leise: »Muss das sein?«
    Auch Schwester Nora brummte unwillig, sagte aber dann: »Nun gut. Wenn man euch den kleinen Finger reicht, dann schnappt ihr gleich nach der ganzen Hand. Morgen nach dem Frühstück geht es los. Zieht euer schönstes Kleid an. Nur mit den Schuhen macht ihr es anders. Die ältesten Treter, die ihr auftreiben könnt, sind gerade gut genug für das, was wir in Linz erledigen müssen.«
    »Aber Lydia kann in ihren schweren Knobelbechern nicht laufen«, wandte Anna ein.
    »Wer spricht denn von laufen? Ich ziehe meine Schwesterntracht an. Wir werden selbstverständlich gefahren.« Sie sagte das in einem Ton, ganz von oben herab, beinahe so als ob sie wirklich von Middelbeck hieß.
    Am nächsten Tag kam es beim Mittagessen in Theresienruh zu einem Aufstand. Es begann damit, dass den Schülerinnen und dem Kollegium an der Durchreiche etwas Undefinierbares auf den Teller geschöpft wurde, auf das weder der Name Suppe noch der Name Eintopf zutraf. Es war ein schleimiger Brei aus in Wasser gekochten Graupen. Die waren zu dicken, glasigen und glitschigen Körnern aufgequollen. Einige wenige Lauchfasern, Spuren von gewürfelten Kartoffeln und reichlich Salz schien alles zu sein, was dazugegeben worden war.
    Zuerst löffelten Dr. Scholten und die Lehrerinnen entschlossen von dem Essen, weil sie den Mädchen ein gutes Beispiel geben wollten, dann aber knallte Frau Wisnarek ihren Löffel auf die Tischplatte und sagte: »Das ist der scheußlichste Fraß, der mir je zugemutet worden ist.«
    Die anderen Lehrerinnen folgten ihrem Beispiel, leiser zwar, und schauten zu Dr. Scholten, der noch einen Löffelvoll nahm. Er schluckte, würgte und legte dann auch resigniert den Löffel zur Seite.
    Die meisten Mädchen kauten wegen ihres Hungers, der sie in diesen Tagen ständig plagte, lustlos auf den Graupen herum. Als sie mitbekamen, was am Lehrertisch vor sich ging, begannen auch sie zu murren. Nilschlamm, Tapetenkleister, Morast aus der Jauchegrube waren noch die harmlosesten Bezeichnungen. Selbst Frau Lötsche, die immer streng auf die geforderte Ruhe beim Essen

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