So weit die Wolken ziehen
gossen regelmäßig die Pflanzen und zupften jedes kleinste Unkraut aus.
Anna hatte noch zweimal bei Friedrich Samen gekauft. Immer hatte sie mit ähnlicher Münze wie beim ersten Mal zahlen müssen. Einmal strich er über ihren Arm von den Fingern bis zur Achsel. Beim zweiten Mal verlangte er, ihr Bein von den Zehen bis zur Kniekehle zu berühren. Verwundert stellte Anna fest, dass sich kein Härchen mehr sträubte, ja, es war ihr nicht einmal unangenehm, wenn sie Friedrichs Finger auf der Haut spürte.
»Hast du nicht gesagt, Anna, dass in der Gärtnerei auch Salatpflanzen gezogen werden?«, fragte Frau Brüggen.
»Doch«, bestätigte Anna. »In alten Eierkartons sind viele Hundert vereinzelt und ausgepflanzt worden. Sie sind schon ungefähr vier Zentimeter hoch. Der Gärtner meint, sie können bald ins Freiland.«
»Am Ende unseres Beetes sind noch fast fünfunddreißig Meter frei«, sagte Frau Brüggen. »Ich werde Dr. Scholten bitten, dass er dir Geld aus unserer Kasse gibt. Vielleicht verkauft man dir in der Gärtnerei Pflanzen. Vier Reihen setzen wir dann nebeneinander.«
»Fünfunddreißig Meter«, wiederholte Lydia. »Vier Pflanzenreihen, in jeder Reihe auf einen Meter vier Stück. Mit fünfhundertsechzig Pflanzen kommen wir aus.«
Frau Brüggen ritzte die Zahlen mit einem Stöckchen in den Boden und rechnete. »Stimmt genau«, bestätigte sie.
»Was Lydia herausbekommt, stimmt immer«, sagte Anna. »Aber ob ich überhaupt Salatpflanzen mitbringen kann, weiß ich noch nicht. Ich muss erst fragen, was sie diesmal kosten.«
»Sei nicht knauserig, Anna, wenn du mit dem Gärtner verhandelst«, sagte Frau Brüggen.
Wenn die wüsste, dachte Anna.
Die Sorge, dass die Russen auch nach Linz und Theresienruh vorstoßen könnten, wurde von Tag zu Tag größer. Am 13. April hatten sie St. Pölten erobert. Die Aussichten, auf irgendeinem Weg bald zurück ins Ruhrgebiet zu gelangen, wurden immer geringer. Da erinnerte Schwester Nora sich, dass sie einmal ein höheres Mitglied der Reichsleitung kennengelernt hatte. Kurz nachdem sie aus dem Ruhrgebiet nach Maria Quell geschickt worden war, hatte Dr. Scholten sie eingeladen, mit ihm nach Wien in die Oper zu fahren. Weil sie kein festliches Kleid besaß, hatte sie ihre Schwesterntracht angezogen. Zunächst schien es allerdings so, als ob kein Platz mehr zu bekommen sei. Die Warteschlange vor der Abendkasse hatte sich schon aufgelöst. Dr. Scholten sagte: »Tut mir leid, Nora, wir sind vergebens die sechzig Kilometer bis Wien gefahren.«
»Einen Augenblick noch, Otto. Manchmal erlebt man eine Überraschung.«
Als die Klingel zum zweiten Mal schellte, wollte auch Schwester Nora nicht länger vor der Kasse stehen. Die Kassiererin hatte den Vorhang am Kassenschalter schon zugezogen. Doch dann schlug sie ihn noch einmal zur Seite, öffnete das kleine Rundfenster und sagte leise: »Der Herr von der Reichsleitung, für den zwei Karten zurückgelegt worden sind, scheint verhindert zu sein. Wenn Sie die beiden Logenplätze haben wollen?«
»Mit Vergnügen«, sagte Dr. Scholten und zog seine Brieftasche heraus. Er nahm an, dass sich für einen Logenplatz zu wenig Geld in seiner Börse befinde.
»Für die Loge sind stets Freikarten vorgesehen«, sagte die Kassiererin. »Sind eigentlich für die Reichsleitung. Aber frei bleiben brauchen die Plätze nun wirklich nicht.« Als Dr. Scholten sie verblüfft anschaute, lachte sie und reichte ihm eine Sammelbüchse heraus. »Für die Karten brauchen Sie nichts zu zahlen. Wenn Sie allerdings eine kleine Spende für unseren Hilfsfonds machen wollen, bittschön.«
Es klingelte zum dritten Mal. »Schnell jetzt«, sagte die Kassiererin. »Gleich werden die Türen geschlossen. Wer zu spät kommt, muss bis nach dem ersten Akt warten.«
Sie schlüpften noch gerade rechtzeitig in die Loge. Die Platzanweiserin machte einen Knicks und schloss hinter ihnen die Tür. Ein junger Mann in Parteiuniform nickte ihnen zu. Er hatte mit seiner Begleiterin, einer eleganten Dame in Abendrobe, die anderen beiden Plätze der Loge eingenommen. Viele Augen hatten sich auf die Loge gerichtet. Einige Besucher erhoben sich von den Plätzen, setzten sich aber gleich wieder, als sie erkannt hatten, dass nicht der Reichsleiter gekommen war. Das elektrische Licht in dem riesigen Kristallleuchter erlosch. Der Vorhang hob sich und die Oper begann. In der Pause stellte sich der uniformierte Herr als Dr. von Kinewski vor. Den Namen seiner Begleitung nuschelte er
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