So weit die Wolken ziehen
Sie fürchtete, dass die kleine Schwester ihr wieder zur Last fallen würde. Frau Brüggen hatte zu Anna gesagt: »Ruth scheint dich zu mögen. Sie hat es nicht leicht unter euch Großen. Es wäre gut, wenn du das Kind ein wenig unter deine Fittiche nehmen könntest.« Anna sperrte sich nicht. Ruth spürte das und schloss sich enger an Anna Mohrmann an. Vom Eifer der großen Mädchen angesteckt, bastelte Ruth aus Karton und farbigem Papier eine Briefmappe.
Anna beobachtete sie. »Wer soll die bekommen?«
»Frau Brüggen.«
»Die Lehrerin?«
Ruth schaute sich um, ob ihr auch niemand zuhören konnte, und flüsterte: »Ja. Aber Frau Brüggen ist auch Irmgards und meine Tante.«
Anna schaute sie überrascht an. »Eure richtige Tante?«
»Pst! Das darf niemand wissen. Deshalb sagen wir ja auch nicht Tante Lene zu ihr, sondern Frau Brüggen.«
»Warum? Wenn sie doch eure Tante ist.«
»Frau Brüggen will das so. Weil sonst die anderen meinen, wir würden vorgezogen.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich. Aber verrate bitte niemand etwas davon.«
Ruth war sehr geschickt und die Mappe wurde ein Schmuckstück. Damit sie mit einer Schleife zugebunden werden konnte, klebte Ruth zum Schluss zwei blaue Samtbänder ein. Obwohl Anna sie lobte, war Ruth selbst mit ihrer Arbeit nicht ganz zufrieden. »Ich müsste zur Verzierung vorn auf den Deckel noch einen Scherenschnitt kleben«, sagte sie. »Am schönsten wäre eine Postkutsche mit zwei Pferden davor. Was hältst du davon, Anna?«
»Gute Idee.«
Ruth machte sich ans Werk. Nach einigen vergeblichen Versuchen warf sie die kleine Schere auf den Tisch und rief enttäuscht: »Es geht einfach nicht. Ich krieg’s nicht hin. Das sind ja keine richtigen Pferde. Die sehen aus wie Ziegenböcke.«
Ruth probierte es noch ein paar Mal, aber schließlich, als außer ihr und Anna niemand mehr in der Stube war, räumte sie das schwarze Papier und die Schere weg.
Anna wollte sich ein bisschen ausruhen, bis es zum Abendessen läutete. Sie legte sich auf ihr Bett und hielt die Augen geschlossen. Ruth saß am Tisch. Es war still im Zimmer. Anna öffnete ihre Augen einen Spaltbreit und sah, dass Ruth begonnen hatte, einen Brief zu schreiben. Immer wieder kaute sie auf dem Ende ihres Stiftes. Schließlich faltete sie das Schreiben sorgfältig zusammen und steckte es in einen Umschlag. Sie nahm die Briefmappe und blickte kurz zu Anna hinüber. Sie schien noch zu schlafen. Vorsichtig, damit kein Geräusch sie weckte, schob Ruth ihren Hocker vor den Kleiderschrank und kletterte hinauf. Um die Mappe und den Umschlag auf den Schrank legen zu können, musste sie sich recken. Dann sprang sie vom Hocker hinunter. Anna fuhr auf, als ob sie von dem Lärm aus dem Schlaf gerissen worden sei.
»Ich gehe schon runter«, sagte Ruth. »Wird gleich Abendessen geben.«
Anna wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann stieg auch sie auf den Hocker und nahm den Brief. In schönen großen Buchstaben hatte Ruth auf den Umschlag geschrieben An das Christkind. Anna zögerte einen Augenblick, doch dann siegte die Neugier. Sie zog den Brief heraus und begann zu lesen: Liebes Christkind, Du hast es sicher gesehen, ich habe es wirklich versucht, das mit den Pferden. Aber es geht einfach nicht. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Deshalb will ich Dich bitten, schneide Du mir das Pferdegespann und die Postkutsche aus. Das ist für Dich bestimmt nicht schwer. Die kleine Schere und das schwarze Scherenschnittpapier liegen in meinem Spind ganz oben im Fach.
Es folgten zwei dick durchgestrichene Zeilen. Nur mit Mühe konnte Anna sie entziffern. Die erste hieß Mit deutschem Gruß: Heil Hitler, Deine Ruth , und die zweite Viele Grüße, Deine Ruth. Darunter hatte Ruth eine dritte Zeile geschrieben: Grüß Gott, liebes Christkind. Deine Ruth Zarski von Stube 215 . Anna wog den Brief unschlüssig in der Hand. Dann versteckte sie ihn zusammen mit der Schere und dem Papier in ihrem eigenen Kleiderfach tief unter der Wäsche.
Gleich nach dem Abendbrot tastete Ruth nach dem Brief.
»Suchst du was?«, fragte Irmgard.
»Schon gut«, antwortete Ruth. »Eigentlich hab ich’s auch schon vorher gewusst, dass meine Post nicht mehr da sein kann.«
»Post?«, fragte Irmgard. »Ich habe schon vierzehn Tage keine Post mehr von zu Hause bekommen. Und du auch nicht. Jeden Mittag nach dem Essen, wenn die Post verteilt wird, warte ich und warte ich. Aber unser Name wird wieder nicht aufgerufen.«
»Mutter hat wenig
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