So weit die Wolken ziehen
Krase rief ein paar in der Nähe spielende Kinder zu sich und forderte sie auf, der Schwester die juckenden Stellen zu zeigen. »Nur noch wenige Mädchen im Haus sind nicht betroffen«, sagte sie.
Schwester Nora sah sich nur eine Patientin näher an. Dann bat sie die Lehrerin, sie in eine der Schlafstuben zu führen. Gleich an der Tür blieb sie stehen und schnüffelte. Frau Krase versicherte, dass die Zimmer jeden Morgen ausgiebig gelüftet würden.
»Ich schlage vor, dass die Hauswirtin geholt wird«, sagte Schwester Nora.
Frau Krase schickte ein Kind in die Küche und wenig später kam es mit Frau Hirzel zurück. Die trocknete ihre Hände an einem kleinen Handtuch ab. »Was gibt’s? Ich bin gerade dabei, die Suppe für den Abend zu kochen.«
»Riechen Sie etwas?«, fragte die Schwester.
»Wo so viele Menschen auf engem Raum zusammenwohnen, da stinkt’s immer«, antwortete Frau Hirzel patzig. Doch dann sog sie die Luft tief ein, wurde stutzig, ging zum Fenster und beugte sich hinunter zu einem Filzstreifen, den sie von den beiden Kriegsgefangenen zu Beginn des Winters zur Abdichtung der Fenster um die Rahmen hatte kleben lassen. Jetzt nahm auch Frau Krase die leicht säuerliche, muffige Ausdünstung wahr. Sie beteuerte: »Jede Stube wird wirklich täglich gründlich gelüftet.«
»Na, Frau Hirzel, was sagen Sie dazu?«, fragte die Schwester. Die Wirtschafterin drehte sich zu ihr um und stieß hervor: »Ich will verdammt sein, wenn das nicht …« Sie unterbrach sich, riss mit einem Ruck einen der Filzstreifen vom Fensterholz herunter, hielt ihn triumphierend hoch und sagte nur ein Wort: »Wanzen.«
»Cimex lectularius, Bettwanzen. Wahrscheinlich in allen Fugen und Ritzen Bettwanzen«, bestätigte die Schwester.
Frau Krase musste sich setzen. »Wanzen! Das ist ja fürchterlich. Was machen wir denn jetzt?«
»Es gibt Kräuter«, sagte Frau Hirzel. »Ich habe ein Buch von meinen Großeltern geerbt. Man kocht einen Sud …«
»Hier hilft kein Sud von anno dazumal«, unterbrach die Schwester sie. »Die Biester müssen von einem Fachmann vergast werden. Blausäure vermutlich.«
»Aber Schwester Nora«, protestierte Frau Krase. »Blausäure! Denken Sie doch an die Kinder.«
»Genau um die geht es mir. Die Mädchen können unmöglich länger in dieser Wanzenbude wohnen.«
»Ich verbiete Ihnen, mein Haus so zu nennen«, empörte sich Frau Hirzel.
»Schnickschnack.« Die Schwester sagte bestimmt: »So werden wir es machen, Frau Krase. Im Quellenhof stehen genügend Zimmer leer. Sie rufen die Mädchen zusammen. Jedes Kind soll eine Garnitur frische Wäsche auf den Hocker legen, auch Strümpfe, Oberbekleidung und Schuhe.«
»Aber die meisten haben außer ihrer Alltagskleidung nur noch die Sachen für sonntags.«
»Dann eben die Sonntagssachen. Sie führen die Kinder zum Quellenhof. Bitte nehmen Sie den Eingang zum Untergeschoss, der zum Schwimmbad führt. Im Vorflur ziehen die Kinder alle Kleider aus und den Badeanzug an. Die Sachen werden zurückgelassen. Ich bringe die Mädchen dann in den Duschraum. Dort werden sie von Kopf bis Fuß gewaschen. Dann dürfen sie noch einige Minuten im Schwimmbad toben. Frau Zitzelshauser wird Handtücher bereitlegen. Sie sorgen dafür, dass die frischen Garnituren in den Quellenhof geschafft werden. Auch das Waschzeug, die Seife und die Zahnbürsten. Die Mädchen werden anschließend in die neuen Zimmer eingewiesen, in denen sie dann wohnen, bis der Kammerjäger seine Arbeit hier getan hat.«
»Und die verwanzte Kleidung?«, fragte Frau Krase.
»Die lieben Tierchen halten sich tagsüber gewöhnlich nicht in den Kleidern auf. Aber wir werden veranlassen, dass sie vorsichtshalber gewaschen und die Schuhe gründlich gereinigt werden.«
Frau Krase seufzte auf. »Der Direktor wird einen Herzanfall bekommen.«
»Waren Sie früher mal Feldwebel?«, fragte Anna die Schwester. »Ich meine, weil Sie so einen Befehlston haben.«
Schwester Nora lächelte. »Wenn ich dir etwas befehlen würde, Anna, dann hieße meine Anordnung: Denk an den Auftrag von Herrn Aumann.«
»Richtig«, antwortete Anna. Sie wandte sich an Frau Krase: »Der Direktor möchte gern wissen, ob der Brief ohne Absender unangenehm für Sie war.«
»Ach, der Brief.« Frau Krase tastete in ihre Jackentasche und fand ihn. »Ganz vergessen«, sagte sie verlegen. Sie riss ihn auf, las und kicherte. »Hören Sie sich das an! Das ist ja unglaublich. Der Brief ist schon eine Woche alt. Man sollte immer den Postboten
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