So weit die Wolken ziehen
Zeit. Sie wird schon schreiben. Ich bin übrigens morgen bei Esther Salm eingeladen«, sagte Ruth. »Ich freue mich schon.«
»Ach, die Salm! Das ist doch eine ganz eingebildete Trine. Kriegt kaum mal die Zähne auseinander.«
»Zu mir ist sie nett.«
»Wer’s glaubt«, sagte Irmgard und ging aus der Stube.
Am nächsten Tag durfte Ruth wieder zu Esther gehen. Es blieb also für Anna genügend Zeit, Ruths Wunsch an das Christkind zu erfüllen. Ihr gelang eine zierliche Postkutsche, vor die zwei feurige Pferde gespannt waren.
»Himmlisch«, sagte Irmgard überschwänglich, während sie Anna über die Schulter schaute. Anna musste lachen. Wie recht sie hat, dachte sie.
In den folgenden Tagen sah Ruth immer wieder ungeduldig nach, ob ihre Mappe schon auf dem Schrank lag. Aber erst zwei Tage vor Weihnachten fand Ruth das Geschenk. Sie schaute glücklich auf den Deckel der Mappe, aber überrascht schien sie nicht zu sein.
Als die Tante bei der Bescherung am Heiligen Abend Ruths Päckchen auspackte, war sie erstaunt, dass dem Kind eine so kunstvolle Mappe, verziert mit einem fein ausgearbeiteten Scherenschnitt, gelungen war. »Und das herrliche Geschenk hast du ganz allein gemacht, Ruth?«
»Nicht ganz allein, Tante … ach, Frau Brüggen. Das Schmuckbild vorn auf der Mappe, das kann kein Mensch so schön hinkriegen. Das ist vom Christkind selbst.«
Ruth hat eine lebhafte Fantasie, dachte die Tante. Sie scheint wirklich zu glauben, was sie da sagt. Ich muss bald mit ihr darüber sprechen, damit sie nicht auf genauso grobe Art wie beim Nikolaus erfährt, was es mit den Weihnachtsgeschenken in Wirklichkeit auf sich hat.
Die abendliche Feier im Speisesaal wurde ganz nach der Vorschrift der Gauleitung in Wien durchgeführt. Christliche Weihnachtslieder, alles, was an die Geburt Jesu erinnerte, waren verboten. Stattdessen sollte auf den alten Brauch der Germanen zurückgegriffen werden, auf das Julfest, die Wintersonnenwende. Die Mädchen hatten die Tische mit Gestecken aus frischem Tannengrün geschmückt und kleine Hakenkreuzfähnchen aus Papier verteilt. Neben jedem Gedeck stand eine dünne rote Kerze, die in einen Apfel eingepasst worden war. Der Saal lag im Halbdunkel, nur eine einzige Lampe war eingeschaltet. Die Mädchen kamen herein und setzten sich erwartungsvoll auf ihre Plätze. Die Lehrerinnen und Lehrer entzündeten die Kerzen. Dann erlosch das elektrische Licht. Dr. Scholten stimmte das Lied Oh Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter an. Nun wurde die Tür zur Küche geöffnet und das Personal, Frau Zitzelshauser vornweg, trug das Abendessen herein. Schließlich wurden die Päckchen, die für viele Schülerinnen im Laufe der Adventszeit angekommen waren, ausgeteilt. Es war aber angeordnet worden, dass, von den persönlichen Geschenken abgesehen, die Süßigkeiten unter allen aufgeteilt werden müssten. Das sei wohl selbstverständlich.
Frau Lötsche sagte: »Wir handeln getreu dem Spruch der Bewegung Einer für alle, alle für einen.«
Für Ruth und Irmgard war ein langer Brief ihrer Mutter dabei. Gott sei Dank war ihr nichts Schlimmes passiert.
»Jetzt ist erst richtig Weihnachten für uns«, sagte Ruth.
An diesem 24. Dezember durften die Mädchen bis neun Uhr beisammenbleiben. Für jede gab es ein kleines Geschenk, in buntes Papier eingeschlagen und mit einem Goldbändchen verschnürt. Ruth hatte in ihrem Päckchen einen winzigen Plüschbären gefunden und ihn gleich an ihr Herz gedrückt. Irmgard freute sich über einen neuen silbernen Drehbleistift und in Annas Päckchen war ein Taschenkalender für 1944, in weiches Nappaleder eingebunden. Lydia war enttäuscht. Sie hatte ein gebrauchtes Liederbuch geschenkt bekommen. Es hieß Des Knaben Wunderhorn. Es war nicht so sehr das Buch, das sie ärgerte, vielmehr entdeckte sie, gleich als sie es aufschlug, auf der ersten Innenseite den Namen Deborah Silberstein.
»Das Buch hat vorher einer Jüdin gehört«, flüsterte sie Anna zu. »Ich will kein Liederbuch von einer Judenschickse.« Sie schob es verächtlich zur Seite.
Zum Schluss sangen die Mädchen das Lied Hohe Nacht der klaren Sterne. Bei der dritten Strophe standen den meisten die Tränen in den Augen. Mütter, euch sind alle Feuer, alle Sterne aufgestellt, Mütter, tief in euren Herzen schlägt das Herz der weiten Welt.
Ruth nahm ihren Bären mit ins Bett. Sie war bald eingeschlafen und träumte einen wirren Traum von Weihnachten zu Hause. Der Vater hatte Urlaub bekommen. Er war vom
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