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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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einfachen Soldaten über alle Rangstufen hinweg gleich zum Hauptmann befördert worden. An seiner Uniformjacke trug er das Eiserne Kreuz Erster Klasse. Der Führer persönlich hatte ihm die Hand geschüttelt. Viele Mädchen gratulierten ihr und immer wieder musste sie ihnen erzählen, wie der Vater … Doch plötzlich zerfloss der Traum. Ruth wachte auf. Fliegeralarm? Sie sprang aus dem Bett. Es dauerte einen Augenblick, bis sie wusste, wo sie war. Angst bedrängte sie. Sie tastete nach dem Lichtschalter. Waren die Fenster auch verdunkelt? Sie schaltete das Licht ein. Warum hatten die anderen im Zimmer sich nicht gerührt? Erst jetzt sah sie es: Alle Betten waren leer. Ihre Angst wuchs. Hatte sie den Alarm verschlafen? Sie löschte das Licht wieder und hob die Verdunkelung am Fenster ein wenig an. Durch das geöffnete Portal der Kirche Maria Quell fiel ein Lichtschein. Viele Leute waren auf dem Weg zurück in ihre Häuser. Einige trugen brennende Windlichter, andere schirmten Kerzen mit der Hand vor dem Wind ab. Ein paar Mädchen kamen auf den Quellenhof zu. Sie kletterten über eine Leiter auf das Flachdach des Speisesaals und stiegen schließlich durch ein unverriegeltes Fenster ins Haus. Kurz darauf öffnete sich die Tür der Stube und das Licht wurde angeknipst. Ruth stand vor ihrem Bett. Sie zitterte am ganzen Körper.
    »Wo seid ihr gewesen?«
    Anna legte einen Finger auf die Lippen. »Pst«, flüsterte sie. Die Mädchen löschten die Kerzen, zogen ihre Schlafanzüge an und krochen in ihre Betten.
    »Es ist kalt hier«, sagte Irmgard zu Ruth. »Los, ab mit dir in die Klappe.«
    Anna setzte sich noch kurz zu Ruth und flüsterte ihr zu: »Wir waren in der Christmette. Morgen erzähle ich dir alles.«
    Und mich haben sie nicht mitgenommen, dachte Ruth. Sie konnte lange nicht einschlafen. In dieser Nacht passierte etwas, was schon seit ihren Kleinkindertagen nicht mehr geschehen war: Sie nässte ein.
    Als Dr. Scholten nach der Christmette in die Sakristei ging, um Pater Lukas und Pater Martin Frohe Weihnachten zu wünschen, luden die beiden ihn ein, mit ins Kloster zu gehen.
    »Wir trinken noch ein Glas Wein«, sagte Pater Lukas.
    Pater Martin bedankte sich: »Es war eine festliche Musik, Herr Doktor. Was würden wir ohne Ihr Orgelspiel an den Feiertagen wohl anfangen? Seit Pater Felix, unser Kantor, zu den Sanitätern eingezogen worden ist, haben wir gelegentlich die Lehrerin Frau Tschernik aus dem Dorf gebeten, uns auszuhelfen. Sie macht das ja auch dann und wann. Aber der Weg zu uns herauf ist für die alte Frau zu weit. Sie weiß, dass ihrer Kraft und übrigens auch ihrer Kunst enge Grenzen gesetzt sind.«
    »Ob ich im nächsten Jahr überhaupt noch einspringen kann, weiß ich nicht. Die Gauleitung in Wien hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass mein Kontakt zu Kirche und Kloster höchst unerwünscht ist.«
    »Wir würden es sehr bedauern, wenn es zu einem Verbot käme«, sagte Pater Martin. »Aber wir wollen Sie selbstverständlich nicht in Schwierigkeiten bringen. Wenn die Orgel verstummt, dann ist sie in zahlreicher Gesellschaft. Viele, zu viele schweigen in dieser Zeit.«
    »Ich habe gehört, dass Frau Salm oben im Haus am Hang eine sehr gute Pianistin ist. Fragen Sie doch mal nach, ob sie nicht die Orgel spielen kann.«
    Pater Martin antwortete: »Das wird nicht möglich sein. Nein, das können wir nicht tun.« Dr. Scholten wartete auf eine Begründung, doch der Pater wechselte das Thema. »Wir haben noch ein Geschenk für Sie. Hoffentlich gefällt es Ihnen.« Pater Lukas reichte Dr. Scholten einen Umschlag. Ich soll doch wohl nicht für mein Orgelspiel bezahlt werden?, dachte Dr. Scholten. Er zog ein Pergamentblatt heraus. Darauf war in Noten und Text das Weihnachtslied Oh selige Nacht kunstvoll aufgeschrieben.
    »Wunderschön«, rief Dr. Scholten aus. »So eine alte Handschrift wollen Sie mir schenken?«
    »Sie ist wohl doch nicht so kostbar, wie es auf den ersten Blick aussieht.« Pater Martin schmunzelte. »Das Lied hat Pater Lukas für Sie kopiert. Allerdings hat er zwei Tage lang daran gearbeitet.«
    »So etwas Herrliches können Sie?«, fragte Dr. Scholten überrascht.
    Pater Lukas wurde verlegen. »Schauen Sie mal, welche Zeile ich besonders hervorgehoben habe.« Die Strophe begann mit Wie tröstlich er spricht . Nun sprangen Dr. Scholten die mit einem roten Rankenwerk ausgeschmückten und etwas größer geschriebenen Wörter ins Auge: Oh fürchtet euch nicht. Und dann ging es in schwarzen

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