So weit die Wolken ziehen
fragen, wenn man Probleme hat. Hören Sie.« Sie las laut vor: Verehrte Frau Lehrerin, ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber als ich gestern die Post ins Tannenhaus brachte, lag dort etwas in der Luft. Ich war im letzten Krieg zwei Jahre Soldat in Russland und erinnerte mich sofort an etwas. Ich hatte dort nämlich diesen säuerlichen, etwas stickigen Gestank oft in der Nase. Genau wie gestern in Ihrem geschätzten Tannenhaus. Damals lernte ich, wie Wanzen riechen. Ich rate Ihnen, einmal im Tannenhaus in Fugen und Ritzen und vor allem unter den Tapeten nachzuschauen. Ich bin sicher, Sie werden ganze Scharen dieser kleinen Plagegeister entdecken. Wenn es lange kein Blut zu saugen gab, sehen sie blassbraun und fast durchsichtig aus. Haben sie bereits ein Opfer angezapft, sind sie linsengroß und dunkelbraun. Wir haben die Biester damals mit dem Daumennagel geknackt. Aber viel geholfen hat das nicht. Nehmen Sie mir dieses Schreiben bitte nicht übel. Aber ich befürchtete, Sie würden vielleicht beleidigt sein und mich beschimpfen, wenn ich Ihnen den Brief persönlich aushändige. Deshalb habe ich ihn vorsichtshalber im Quellenhof abgegeben. Sicher werden Sie ihn bald erhalten. Und nichts für ungut. Ihr ergebener Ludwig Plattner, Postbote, 3.12.1943.
»Ein guter Mann«, lobte die Schwester. »Wir hätten es also schon vorige Woche wissen können und den Kindern manchen Wanzenbiss erspart. Aber nun keine weiteren Verzögerungen mehr. Auf geht’s.«
Der Direktor war mit Frau Lötsche in die Stadt gefahren. Sie hatten vor, bei der zuständigen Stelle vorzusprechen und zu versuchen, für die Mädchen neue Winterschuhe genehmigt zu bekommen. Vor dem Abendessen würden die beiden wohl nicht zurück sein. Der Umzug duldete aber keinen Aufschub. Schwester Nora wollte nicht warten, bis der Direktor gefragt werden konnte. Sie wandte sich an Dr. Scholten.
Er ließ sich die Sachlage schildern und sagte: »Klar, die Gesundheit der Kinder geht vor. Ein Notfall fordert schnelle Entscheidungen. Es trifft sich gut, dass Herr Aumann für ein paar Stunden nicht im Hause ist. Er hätte sicher erst in den Akten geblättert und nach einer Vorschrift gesucht, die auf unsere Situation zutrifft.« Er überlegte nicht lange und stimmte Schwester Noras Plan zu. »Ich nehme es auf meine Kappe.«
»Und ich auf mein Rotkreuzhäubchen. Die Umsiedlung kann beginnen«, sagte die Schwester.
Dr. Scholten informierte Frau Zitzelshauser, von der er Widerstand erwartete. Zu seiner Überraschung äußerte die Hauswirtin jedoch keine Bedenken, sondern sagte: »Gut, Herr Doktor. Endlich wird unser Hotel mal wieder voll belegt sein. So war es vor dem Krieg immer. Allerdings muss das Personal unbedingt aufgestockt werden. Seit Lutka uns weggeholt worden ist, schaffen wir die Arbeit in Haus und Küche kaum noch.«
»Wir werden dafür sorgen. Bis es so weit ist, können die größeren Mädchen Ihnen zur Hand gehen«, versprach Dr. Scholten.
»Wir sollten häufiger an einem Strang ziehen«, sagte Schwester Nora.
Als Direktor Aumann gegen Abend zurückkam, saß die um dreißig Kinder angewachsene Schülerinnenschar schon beim Abendessen. Schwester Nora schilderte ihm die neue Lage.
»Es ist ja vielleicht nur für ein paar Tage. Wenn der Kammerjäger seine Jagd im Tannenhaus beendet hat …«, sagte Dr. Scholten.
Der Direktor unterbrach ihn. »Wenn ich es mir recht überlege, dann ist es für Kollegium und Schulleitung einfacher, alle Schülerinnen unter einem Dach zu haben. Außenstellen bringen immer eine gewisse Mehrarbeit. Jedenfalls werde ich das bei den zuständigen Behörden nachdrücklich vertreten, wenn sich jemand beschweren sollte.«
»Frau Zitzelshauser benötigt dann allerdings mehr Personal.«
»Ach, das hätte ich fast vergessen. Am Montag werden uns zwei junge Frauen zugeteilt. Ukrainerinnen. Die haben sich freiwillig für die Arbeit in Deutschland gemeldet.«
»Wahrscheinlich ähnlich freiwillig wie die Lutka aus Polen«, sagte Dr. Scholten ironisch.
Der Direktor reagierte ungehalten. »Sie finden immer ein Haar in der Suppe, Herr Kollege.«
In allen Zimmern des Quellenhofs herrschte in den Tagen vor Weihnachten ein geschäftiges Treiben. Es roch nach Leim und Farbe, Laubsägen hörte man ratschen und das leise Knirschen von Sandpapier beim Schleifen von Holz. Auch wurde gemalt, gehäkelt, gestickt, genäht. In Stube 215 war es nicht anders. Die neunjährige Ruth war dort untergebracht worden. Irmgard war das gar nicht recht.
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