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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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gingen weg.
    Anna sagte zu der Lehrerin: »Ich soll Ihnen noch mitteilen, dass die Rotkreuzschwester angekommen ist.«
    »Na, endlich.«
    »Noch eine Aufpasserin mehr in unserem Zirkus«, murmelte Anna.
    »Das lose Mundwerk solltest du dir abgewöhnen.«
    »Ich werde es mir merken, Frau Krase«, sagte Anna und lief zum Quellenhof zurück.
    Nach dem Mittagessen und dem Verteilen der Post stellte Direktor Aumann den Mädchen Schwester Nora vor. Sie war größer als der Direktor, knochig und robust, breit in den Hüften, aber keineswegs dick. Ihre Augen lagen dicht neben dem scharfen Nasenrücken. Der Mund war auffallend groß und die strichschmalen Lippen hielt sie zusammengepresst.
    »Auweia«, flüsterte Irmgard. »Da haben sie uns aber einen Drachen ins Haus geschickt.«
    Schwester Nora begrüßte die Mädchen. Sie hatte eine volltönende, sehr tiefe Stimme. »Ich heiße, wie ihr wahrscheinlich schon gehört habt, Nora van Middelbeck. Ich werde kurz nach Weihnachten zweiundvierzig Jahre alt, wiege fünfundsiebzig Kilogramm und habe über zwanzig Jahre als Krankenschwester in einem Krankenhaus in Duisburg gearbeitet. Als das Haus 1941 Lazarett geworden ist und die meisten Schwestern versetzt wurden, hat man mir gesagt, ich solle auf jeden Fall dortbleiben, weil meine äußeren Reize wohl kaum eine Verlockung für die verwundeten Männer darstellen würden. Ihr könnt mich mit Schwester Nora anreden. Das bin ich gewohnt. Ich hoffe, wir kommen gut miteinander aus.«
    »Den Drachen nehme ich zurück«, flüsterte Irmgard. »Aber so eine Stimme habe ich bei einer Frau noch nie gehört. Die könnte in unserem Chor glatt Bariton singen.«
    Der Direktor machte darauf aufmerksam, dass Schwester Nora täglich zwischen zwei und drei Uhr im Krankenzimmer zu sprechen sei. Wenn es allerdings eine dringende Angelegenheit gebe, einen Unfall zum Beispiel, dann brauche sich niemand an die Sprechzeit zu halten. Schwester Nora habe ihm versichert, sie sei immer im Dienst.
    An den folgenden beiden Tagen standen viele Mädchen in einer langen Schlange vor dem Krankenzimmer. Die einen klagten über Kratzen im Hals, andere über ein Ziehen im Rücken. Alle möglichen Wehwehchen wurden vor Schwester Nora ausgebreitet. Die meisten Besucherinnen wollten wissen: Wie ist sie so? Das epidemieartige Anwachsen der vermeintlichen Krankheiten ebbte jedoch schnell ab. Es sprach sich nämlich herum, dass Schwester Nora in fast allen Fällen eine gallebittere giftgrüne Lutschpastille aus einem bauchigen Glas herausnahm und darauf beharrte, dass die Patientinnen sie in ihrer Gegenwart in den Mund steckten. Nach einigen Tagen hing am Schwarzen Brett, an dem immer vor dem Frühstück der Speiseplan und das Tagesprogramm ausgehängt wurden, eine neue Mitteilung: Jedes Mädchen sollte vor Unterrichtsbeginn mit dem Zahnputzbecher auf der Terrasse erscheinen. Gegen die häufig auftretenden Halskrankheiten müsse ausgiebig mit Kaliumpermanganat gegurgelt werden. Die pinkfarbige Flüssigkeit sollten die Mädchen danach am Rand der Terrasse auf den Kiesweg spucken. Ekelhaft, urteilten fast alle, aber keine konnte sich drücken, weil die Stubenältesten eine Strichliste führen mussten.
    Einen Tag später ließ Direktor Aumann Anna zu sich rufen. »Mohrmann, was hat eigentlich Frau Krase von dem Brief gesagt, den ich dir für sie mitgegeben habe?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Habe ich dir denn nicht ausdrücklich gesagt, dass du auf eine Antwort warten sollst?«
    »Daran kann ich mich nicht erinnern.«
    »Woran denkt ihr eigentlich? Also, du kannst Schwester Nora gleich ins Tannenhaus hinüberführen. Sie hätte drüben schon längst nach dem Rechten sehen sollen. Halte deine Gedanken zusammen und berichte mir, was es mit dem merkwürdigen Brief auf sich hat.«
    »Diesmal werde ich mich erinnern«, sagte Anna ein wenig schnippisch.
    Sie ging mit der Schwester hinüber zum Tannenhaus. Frau Krase begegnete ihnen im Eingangsflur.
    »Endlich, Schwester Nora. Wir haben schon auf Sie gewartet«, sagte sie. »Ich hatte Sie schon rufen wollen, denn irgendwas stimmt hier nicht. Ich meine, gesundheitlich. Immer häufiger kommen Mädchen mit roten Flecken auf der Haut zu mir. Es sind meist fünf oder mehr in einer Reihe. Das Jucken scheint ziemlich stark zu sein. Einige Kinder haben sich die Haut schon wund gekratzt. Flohstiche? Die Kinder spielen zwar gelegentlich mit dem Hund von Frau Hirzel, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der so ein Flohbunker ist.«
    Frau

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