So weit die Wolken ziehen
»Schmeckt morgen auch noch gut.« Sie holte ein Blatt Zeitungspapier, legte eine kleine weiße Serviette über den Kuchen und wickelte ihn sorgfältig ein. »Einen Rat will ich euch noch geben, ihr beiden. Lasst die Finger von den Buben. Ihr seid noch viel zu jung für die große Liebe«.
»Wie alt waren Sie denn, als Sie geheiratet haben?«, fragte Irmgard.
»Ich bin ledig geblieben.«
»Sehen Sie. Nicht früh genug die Angel ausgeworfen, wie?«
»Frech wie Dreck«, sagte die Frau. »Jetzt wird’s aber Zeit, dass ihr verschwindet.« Ärgerlich aber klang das nicht. Sie rief ihnen noch nach: »Dienstags gibt’s hier immer frischen Butterkuchen. Frisch schmeckt er am besten.«
Die Steigung nach Maria Quell trieb ihnen den Schweiß aus den Poren. Es wurde schon dunkel, als sie den Quellenhof erreichten.
»Am liebsten würde ich noch mal runterfahren«, sagte Irmgard. »Es soll ja Föhn geben. Wer weiß, wie lange der Schnee noch liegen bleibt.«
»In zwanzig Minuten läutet es zum Abendessen, Irmgard. Wenn wir nicht da sind, gibt es Ärger.«
»Ach was. Wir werden höchstens nichts mehr zwischen die Zähne bekommen. Ich hab ja noch das Stück Butterkuchen. Ich glaube, ich sause noch mal runter.«
»Traust dich ja doch nicht«, sagte Anna.
Irmgard erwiderte nichts und fuhr los. Anna wartete, weil sie dachte, Irmgard würde nur um die nächste Kurve fahren. Als aber nach fünf Minuten immer noch nichts von ihr zu sehen war, ging Anna ins Haus.
»Wo steckt die Zarski?«, fragte Frau Krase, als die Mädchen später das Geschirr abräumten. »Ihr seid doch gemeinsam losgefahren, Anna.«
»Ich hab sie aus den Augen verloren.«
»Wird doch wohl nichts passiert sein?«
»Meine Schwester ist eine gute Skiläuferin«, sagte Ruth.
In diesem Augenblick betrat Irmgard den Speisesaal. Ihre Augen blitzten und ihr sonst eher blasses Gesicht war gerötet.
»Na, hast du mir nichts zu sagen?«, blaffte Frau Krase sie an.
»Es war herrlich, Frau Krase. Der Mond ging gerade hinter dem Berg auf, als ich am Quellenhof ankam.«
»Hoffentlich ist dir auch aufgegangen, dass dein Zuspätkommen nicht ohne Folgen bleibt. Abendessen gibt’s für dich nicht mehr. Melde dich morgen früh gleich zu Beginn des Unterrichts bei mir.«
»Wie Sie wünschen, Frau Krase«, erwiderte Imgard und lachte.
Doch das Lachen verging ihr am nächsten Tag. Frau Krase fertigte sie schnell ab. Auf Irmgards Platz lagen ein Hammer und ein kurzer Meißel.
»Nach dem Unterricht kannst du dir in der Küche eine Schaufel und einen Besen holen. Du befreist die Stufen vom Eis bis hinunter zur Orangerie.«
»Beide Aufgänge?«, fragte Irmgard entsetzt. »Das sind ja zweimal achtundvierzig Stufen.«
»Jawohl. Beide Aufgänge.«
»Das dauert ja Stunden.«
»Das kommt darauf an, wie schnell du arbeitest. Wenn du es heute bis zum Abend nicht schaffst, dann machst du eben morgen weiter.«
»So ein Schlamassel«, entfuhr es Irmgard.
»Die jüdischen Ausdrücke solltest du aus deinem Wortschatz streichen«, sagte Frau Krase und begann ihren Unterricht wie jeden Morgen: »Wo sind wir in der letzten Stunde stehen geblieben?«
Der werde ich’s zeigen, dachte Irmgard, als sie mit ihrem Werkzeug zu den Treppen ging. Die Stufen waren mit einer etwa zwei Zentimeter dicken Eisdecke überzogen. Irmgard schlug und pickte, löste hartnäckige Stücke mit dem Meißel, aber schon nach der dritten Stufe wusste sie, dass diese Strafarbeit lange dauern würde. In der Freistunde wollten Ruth und Anna helfen. Irmgard hatte noch nicht einmal die Hälfte der rechten Treppe gesäubert. Anna trug eine Spitzhacke bei sich und Ruth einen Maurerhammer mit einer scharfen Schneide. Zu dritt legten sie sich ins Zeug.
Später kam Frau Zitzelshauser aus der Küche. »Wär wirklich nicht nötig. Es liegt Föhn in der Luft. Wär alles weggeschmolzen.«
Kurz darauf tauchte Natascha auf, eine der beiden Ukrainerinnen. Sie trug an jeder Hand einen bis zum Rand gefüllten Eimer.
»Was ist das?«, fragte Irmgard.
Natascha nahm statt einer Antwort eine Hand voll Streusalz aus dem Eimer und verteilte es auf einer Stufe. »Zehn Minuten warten«, sagte sie. »Dann ist ganz leicht.«
Die Mädchen verteilten das Salz und gönnten sich eine Pause. Tatsächlich ging es mit der Arbeit jetzt gut voran. Schon gegen halb fünf, als der Berg seine ersten Schatten auf die Treppe warf, hatten sie es geschafft.
Irmgard klopfte an Frau Krases Zimmer und trat ein. »Fertig«, meldete sie.
»Gut.
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