So weit die Wolken ziehen
sind und die Uniform tragen, dann müssen die Tschechen den Bürgersteig verlassen. Ein alte Dame, die das nicht wusste oder auch nicht wollte, wurde von einem Schnösel so heftig weggestoßen, dass sie auf das Pflaster fiel. Und der Lagerführer soll gesagt haben: ›Wir müssen uns eben Respekt verschaffen‹. Und da soll ich mich nicht aufregen?«
»Das ist wahrscheinlich Feindpropaganda«, sagte der Direktor. »Lassen Sie uns lieber überlegen, wie wir die beiden Besuchstage gestalten wollen.«
»Na ja«, sagte Frau Brüggen, »ich vermute, dass die Mütter in erster Linie mit ihren Töchtern zusammen sein wollen. Da wird nicht viel Zeit für ein Programm bleiben.«
»Und die Väter?«, fragte Frau Lötsche. »Auch die sind eingeladen.«
»Die kommen bestimmt aus Russland, aus Norwegen, aus Italien oder Griechenland mal eben von der Front zu uns nach Maria Quell, oder?«, spottete Frau Brüggen.
»Nicht alle Väter sind …«, sagte Herr Aumann, unterbrach sich aber und fuhr ungehalten fort: »Wer auch immer kommt, wir können nicht einfach sagen: ›Sehen Sie mal zu, liebe Eltern, was Sie mit Ihren Kindern machen. Ich erwarte Ihre konstruktiven Vorschläge‹.«
»Ich kann mir kein Programm aus dem Ärmel schütteln.« Dr. Scholten schaute die Kolleginnen an. »Das kann wohl niemand von uns. Aber ich denke, wenn wir uns einige Tage Zeit nehmen und uns vielleicht mit dem ganzen Kollegium und auch mit den Schülerinnen beraten, dann fällt uns schon etwas ein.«
Der Direktor seufzte auf, stimmte aber schließlich zu. »Gut, ich beraume also für den kommenden Donnerstag um fünfzehn Uhr eine Konferenz an.«
»Wenn ich an das Gejammer und das Geheule denke, das beim Abschied ausbrechen wird, wird mir jetzt schon ganz schlecht«, sagte Frau Lötsche. »Wir werden unsere liebe Müh und Not mit den Mädchen haben, wenn die Eltern erst wieder weg sind.«
»Denken Sie lieber daran, Frau Lötsche, dass die Kinder ihre Eltern seit über einem halben Jahr nicht mehr gesehen haben«, antwortete Frau Krase. »Ich meine, wir sollten uns alle Mühe geben, die Besuchstage so schön wie möglich zu gestalten.«
Beim Hinausgehen sprach Schwester Nora Dr. Scholten an. »Sie haben doch einen ganz passablen Tenor, Herr Kollege. Wie wäre es, wenn Sie vor den Eltern singen würden: Wenn ich su an ming Heimat denke … ich mööch zo Foß no Kölle jon.«
Eigentlich hatte sie das nur als Scherz gemeint, aber Dr. Scholten dachte darüber nach und es kam ihm von Mal zu Mal verlockender vor.
Die Mädchen hatten weit weniger Schwierigkeiten mit Vorschlägen als die Lehrerinnen und Lehrer: Unser Chor kann singen. Wir können ein Theaterstück einüben. Wir tragen Gedichte vor. Eine Ausstellung kann vorbereitet werden, in der wir alles zeigen können, womit wir hier unsere Freizeit verbringen. Ein Lagerzirkus, bei dem jeder Jahrgang eine Nummer aufführt. Eine Erzählstunde, in der uns die Eltern von ihrer Kinderzeit berichten. Das waren nur einige der Vorschläge und so stand das Kollegium in der Konferenz nicht mehr vor der Frage, was machen wir, sondern was machen wir nicht. Als Dr. Scholten anregte: »Schwester Nora kann ja das Lied von Zarah Leander singen Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen, ihre Stimme könnte durchaus mit der von der Leander konkurrieren«, da sagte sie: »Das mache ich nur, wenn Sie, Dr. Scholten, das Lied Wenn ich su an ming Heimat denke … ich mööch zo Fuß no Kölle jon vortragen.«
Er antwortete: »Abgemacht. Ich singe.«
Damit hatte Schwester Nora nicht gerechnet. Kleinlaut sagte sie: »Na gut. Dann singe ich auch.«
»Ich fahre mit meinen Skiern heute in der Freistunde runter ins Dorf, Irmgard. Hast du Lust mitzukommen?«, fragte Anna.
»Das trifft sich gut. Frau Zitzelshauser hat’s im Rücken. Ich habe ihr deshalb gestern geholfen, den Vorratskeller aufzuräumen. Da hat sie mir als Dankeschön ein paar Brotmarken geschenkt. Sie hat mir gesagt, unten im Dorf gibt es neben der Kirche die Bäckerei Havliczek. Dazu gehört eine kleine Gaststube. Der frische Butterkuchen von Havliczek ist in der ganzen Gegend berühmt. Die Marken werden reichen.«
Sie schnallten sich die Bretter unter, sagten an der Pforte Bescheid und fuhren los. Die Durchgangsstraße im Dorf war vom Schnee geräumt. Sie nahmen die Skier auf die Schulter und lehnten sie vor der Bäckerei an die Hauswand. Die Gaststube war von einem Kachelofen gut geheizt. Die Mädchen zogen ihre dicken Jacken aus. Sie waren die
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