So weit die Wolken ziehen
einzigen Gäste. Eine Frau betrat die Gaststube, band sich eine weiße Halbschürze um und fragte nach ihren Wünschen. Sie bestellten Butterkuchen und zwei Tassen Kakao.
»Kakao gibt’s nicht. Wär schön, wenn wir den anbieten könnten. Ihr müsst mal wiederkommen, wenn der Krieg zu Ende ist. Aber eine heiße Honigmilch kann ich euch machen.«
Die Mädchen stimmten zu. Die Frau fragte: »Marken habt ihr hoffentlich, oder? Ohne Marken geht bei uns gar nichts mehr. Nicht mal eine Scheibe Brot könnten wir euch ohne Marken servieren. Auf dem Ernährungsamt sitzt neuerdings ein scharfer Hund. Jede Woche müssen wir die Marken ordentlich in Reih und Glied aufkleben. Er schaut genau hin. Nur wenn alles stimmt, bekommen wir die neue Ware zugeteilt, die wir in der Backstube brauchen.«
»Marken haben wir.« Irmgard gab ihr die Papierstückchen.
Die Frau setzte ihre Brille auf und schaute sich die Brotmarken genau an. »Das reicht für vier Stück Kuchen. Aber ihr beiden mageren Heringe werdet euch davon sicher nicht Bange machen lassen.« Nach einer Weile brachte sie zuerst die Honigmilch und dann vier große Stücke Kuchen. »Zahlen könnt ihr ja sicher auch?«, vergewisserte sie sich misstrauisch.
Irmgard legte ihre Geldbörse neben das Gedeck und sagte: »Selbstverständlich.«
Frau Zitzelshauser hatte nicht zu viel versprochen. Der Kuchen war frisch und süß und man schmeckte, dass reichlich Butter aufgestrichen worden war.
»Ist dein Vater eigentlich in der Partei?«, fragte Anna.
»Nee«, antwortete Irmgard. »Der gehörte zu den Roten, zur SPD. Meine Mutter hat oft über ihn gelacht und gesagt, er wäre der merkwürdigste Sozi, den sie kennt. Stockkatholisch und rot. Das gäb’s nicht oft. Mein Vater war jahrelang ohne Arbeit. Erst sind mal die Leute von der SA versorgt worden. Bei Babcock hat er schließlich eine Stelle bekommen. Gleich zu Beginn des Krieges wurde er Soldat. Hat es aber nur bis zum Gefreiten gebracht.«
»Wie? Ruth hat mir neulich erzählt, er wäre Hauptmann und hätte das Eiserne Kreuz bekommen.«
»Schön wär’s. Meine Schwester ist ein dummes Huhn und spinnt manchmal. Und dein Vater, Anna?«
»Was meinst du?«
»Ist der denn Mitglied in der NSDAP?«
»Ich glaube schon. Aber genau weiß ich es nicht.« Sie wunderte sich selbst darüber, dass sie nie danach gefragt hatte. Alle Gespräche über Politik wurden bei den Mohrmanns ohne die Kinder geführt.
»Du hast doch einen Bruder, Irmgard. Wo steckt der eigentlich?«
»In einem KLV-Lager. Wo sonst? Liegt gar nicht so weit von hier, hinter der Grenze in Mähren, außerhalb von Brünn.«
»Schreibt ihr euch manchmal?«
»Ach, Anna, der Albert ist schreibfaul. Zu Weihnachten hat er Ruth und mir eine Karte geschrieben. Dabei schicke ich ihm alle vier Wochen einen Brief. Aber seit wann interessierst du dich für junge Männer?«
Anna lachte. »Hast du dir schon mal überlegt, dass es nach dem Krieg viel mehr Mädchen geben wird als Jungen? Da muss man sich rechtzeitig umschauen.«
»Unser Albert ist ein Jahr älter als ich. Das würde passen. Ich kann ihm ja im nächsten Brief mal schreiben, dass du nicht abgeneigt wärst.«
»Untersteh dich!« Anna drohte Irmgard mit der Kuchengabel. »Ich stech dir die Augen aus, wenn du das machst.«
Irmgard schaute auf ihren Teller. »Was fang ich nur mit meinem zweiten Stück Kuchen an? Ich krieg’s nicht mehr runter. Willst du es?«
Anna schüttelte den Kopf. »Ich hab selbst beim zweiten schon stopfen müssen.«
Die Frau kam wieder in die Gaststube. »Ich hab zufällig mitgehört, was ihr geredet habt. Ist wirklich wahr, die jungen Männer werden dahingemäht. Jeden Tag stehen neue Todesanzeigen in der Zeitung. Gefallen für Führer, Volk und Vaterland. Und einige Burschen sind gerade mal achtzehn. Aber der Führer hat schon recht, für den Endsieg müssen halt Opfer gebracht werden.«
»Wäre gut, wenn er bald käme, der Endsieg«, sagte Anna.
»Wartet’s nur ab. Wenn erst die Wunderwaffe eingesetzt wird …« Anna schaute sie unsicher an. Meinte die Frau das wirklich oder war das Spott?
»Wir möchten zahlen.« Irmgard legte ein Fünfmarkstück auf den Tisch.
Als auch Anna ihre Geldbörse hervorholte, winkte Irmgard ab. »Heute lade ich dich ein.«
»Danke, Irmgard, das können wir ja öfter mal machen.«
»Was tut man nicht alles für die zukünftige Schwägerin.«
»Kuppelei steht unter Strafe, meine Liebe.«
»Ich kann das Stück Kuchen einpacken«, schlug die Frau vor.
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