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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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Trotzdem hielten sich einige Mädchen demonstrativ die Nase zu.
    Eines Morgens lag Anna schon früh wach und beobachtete Ruth. Für sie war es unschwer zu erkennen, was geschehen war. Sie ließ Ruth gewähren, ging aber am Nachmittag zu Schwester Nora und fragte sie um Rat.
    »Du kannst zunächst einmal gar nichts tun, außer zu schweigen. Ich werde mit Ruth sprechen.«
    »Aber bitte …«
    »Keine Sorge, Anna, ich werde deinen Namen nicht erwähnen.« In der Freistunde ließ sie Ruth in ihr Zimmer rufen.
    »Was immer wir jetzt miteinander besprechen, Ruth, du kannst sicher sein, dass ich dir helfen will«, begann Schwester Nora. Ruth ahnte, worum es ging. Sie bekam einen roten Kopf. Als die Schwester schwieg, fragte sie: »Hat es jemand …« Sie stockte, fuhr aber dann fort: »Ich meine, hat jemand etwas gerochen?«
    »Noch nicht, Kind. Aber man wird es über kurz oder lang herausbekommen, wenn es so weitergeht.«
    »Ich kann doch nichts dafür, Schwester Nora. Und zu Hause ist es mir nie passiert. Sie können Irmgard fragen.«
    »Das ist nicht nötig. Ich glaube dir auch so. Aber sag mir, fühlst du dich nicht wohl bei den größeren Mädchen?«
    »Doch. Anna Mohrmann ist, glaube ich, sogar meine Freundin.«
    »Weißt du noch, wann es angefangen hat?«
    »Sicher. Das war in der Nacht, als sie mich allein gelassen haben und in die …« Sie erschrak. Beinahe hätte sie sich verplappert. Sie wollte die anderen nicht verraten. »Zu Hause war alles anders«, sagte sie. »Abends, wenn ich ins Bett gegangen bin, kam meine Mutter ins Zimmer. Sie hat mich fest zugedeckt und manchmal hat sie mir auch eine Gutenachtgeschichte vorgelesen.«
    Schwester Nora spann Ruths Gedanken weiter: »Hier wird um neun das Licht gelöscht und alle ziehen sich die Decke über den Kopf. Die Verdunkelung ist runtergezogen. Kein Lichtfünkchen ist zu sehen. Du bist allein. Ich glaube, alle fühlen sich allein. Und dann kriechen sie aus den Ecken, die schwarzen Gedanken.« Ruth schaute sie überrascht an.
    »Woher wissen Sie das, Schwester Nora?«
    »Die Schrecken der Nacht gehen an niemandem vorbei. Nicht an den Kleinen, nicht an den Großen.« Schwester Nora legte dem Kind den Arm um die Schulter und zog es an sich. Ruth begann zu weinen. Die Schwester hielt sie fest und ließ sie erst los, als sie sich beruhigt hatte. Dann sagte sie: »Ruth Zarski, ich werde dir helfen. Zunächst bekommst du ein Gummituch. Das legst du unter dein Bettlaken. Dann wird die Matratze nicht nass. Ich werde dir frische Bettwäsche in deinen Spind legen. Du machst alles andere wie bisher auch. Aber vor allem, wenn es dir noch mal passiert, wasch dich gründlich. Vielleicht hast du das aber auch nicht mehr lange nötig. Du kommst jeden Abend nach dem Essen kurz zu mir ins Zimmer. Ich habe dann eine kleine Tasse Zaubertee für dich bereitgestellt. Den trinkst du. Der hat schon manchem geholfen.«
    »Was ist das für ein Tee?«, fragte Ruth, schon halb getröstet.
    »Meine Mutter hat mir das Rezept verraten. Es ist ein Tee für alles.«
    »Für alles?«
    »Du sagst es. Aber auch etwas ganz Besonderes wird ab morgen passieren. Was es ist, verrate ich dir heute noch nicht. Du wirst es ja sehen.«
    »Anna hat zu mir gesagt, oft pilgern die Leute, die in Not sind, hinauf zur Kirche. Ich meine, zu der Quelle. Und dann …«
    »Und warum machst du das nicht auch?«
    »Ich werde hingehen.«
    »Vergiss nicht, eine Kerze anzuzünden und zu beten.« Die Schwester holte ihre Geldbörse aus der Nachttischschublade und nahm ein Zehnpfennigstück heraus. Das drückte sie Ruth in die Hand. »Steck für mich auch eine Kerze an. Wer ist in dieser Kriegszeit nicht in Not?«
    Als Ruth zu einer Frage ansetzte, lächelte die Schwester. Ihr grobes Gesicht sah auf einmal jünger aus. »Ruth, Ruth, frag mich nicht zu viel. Schließlich bist du der Patient und ich soll dir helfen und nicht umgekehrt.«
    Ruth bedankte sich und verließ das Zimmer.
    Nach dem Abendessen rief Schwester Nora sechs Mädchen der Oberklasse zu sich. Sie wies darauf hin, dass die Schülerinnen in Maria Quell es verhältnismäßig gut hätten. Es gäbe schmackhaftes und ausreichendes Essen. Die Stuben könnte man sich kaum schöner denken. Niemand brauchte Angst zu haben vor Fliegerangriffen und Schulzeit und Freizeit wären gut geregelt. Trotzdem, allen fehlten Mutter und Vater. Besonders die kleinen Kinder würden ihre Mutter vermissen. »Ihr könntet ein wenig helfen, dass sie sich nicht ganz und gar verlassen

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