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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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Damit ist die Angelegenheit aus der Welt. Ich will dir aber noch sagen, dass ich gestern einen Schrecken bekommen habe, als du beim Abendessen nicht zurück warst. Aber wie gesagt, für mich ist die Sache jetzt erledigt. Du kannst gehen.« Irmgard blieb an der Tür stehen. »Sonst noch was?«
    »Ja. Ich möchte Sie um Salbe und Pflaster bitten. Meine Hände sind voller Blasen.«
    »Für Verletzungen ist Schwester Nora zuständig. Sie ist wahrscheinlich in ihrem Zimmer.«
    Die Schwester sah sich die Handflächen an. »Kommt das vom Skilaufen?«
    Irmgard antwortete: »Irgendwie schon.«
    Als die Mädchen sich im Speisesaal an ihren Tisch setzten, lag neben Ruths und Annas Tasse eine Milchkaramelle.
    »Ist noch von Weihnachten«, sagte Irmgard.

Zweiter Teil
    Der Flaggenappell am 30. Januar begann, weil Sonntag war, eine halbe Stunde später. Der Jahrestag von Hitlers Machtübernahme elf Jahre zuvor sollte würdig begangen werden. Die Mädchen, die eine Uniform des BDM besaßen, hatten sie angezogen. Hübsch sahen sie in ihren braunen Kletterwesten aus. Sie waren in Doppelreihe im großen Viereck um den Fahnenmast angetreten, schnurgerade ausgerichtet, die Uniformierten standen innen. Die Lagermädelführerin hatte ihre Gitarre mitgebracht und stimmte ein Lied an. Die Mädchen fielen ein: Nun lasst die Fahnen fliegen in das große Morgenrot, das uns zu neuen Siegen leuchtet oder brennt zum Tod. Anna Mohrmann trat einen Schritt vor und deklamierte mit lauter Stimme: » An der Schwelle zum Licht. Von Baldur von Schirach . Die Tore der Zukunft sind offen, dem, der die Zukunft bekennt und im gläubigen Hoffen heute die Fackeln entbrennt.«
    Danach kamen vier Mädchen mit brennenden Pechfackeln aus dem Haus und stellten sich um den Flaggenmast. Noch wurde die Fahne nicht aufgezogen. Zwei Mädchen entfalteten das rote Tuch und das Hakenkreuz im weißen Rund wurde sichtbar. Alle sangen: Nichts kann uns rauben Liebe und Glauben zu unserm Land. Es zu erhalten und zu gestalten, sind wir gesandt.
    Irmgard spürte eine Gänsehaut auf den Armen, als es in der zweiten Strophe hieß: Mögen wir sterben … Deutschland stirbt nicht.
    Dr. Scholten war von Herrn Aumann aufgefordert worden, eine Ansprache zu halten. Er schilderte kurz den Weg Adolf Hitlers bis 1933 und schloss mit den Worten: »So wollen wir an diesem Tag dankbar daran denken, dass unserem Vaterland ein Retter geschenkt worden ist, und so grüßen wir dich, unseren geliebten Führer, mit einem dreifachen Sieg Heil, Sieg Heil, Sieg Heil.« Dieser Gruß gehörte im Ruhrgebiet längst nicht überall zur alltäglichen Übung, wurde aber in Maria Quell eingefordert und war inzwischen selbstverständlich geworden. Laut fielen die Mädchen ein: »Heil, Heil, Heil.« Bei der Nationalhymne Deutschland, Deutschland über alles … w urde die Hakenkreuzfahne langsam gehisst und flatterte in der Morgenbrise. Alle, das Kollegium und die Schülerinnen, hielten den rechten Arm zum Hitlergruß waagerecht nach vorn gestreckt. Ein Mädchen aus der Eingangsklasse sprach mit seiner hohen Kinderstimme: »30. Januar 1933, Tag der deutschen Revolution. Von Adolf Hitler. Nichts, was groß ist auf dieser Welt, ist den Menschen geschenkt worden. Alles musste bitter schwer erkämpft werden.« Dann das Schlusslied: Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen …
    »Weggetreten!«, rief die LMF. Die Mädchen stoben auseinander.
    »Wurde auch Zeit«, murmelte Anna. »Mein Arm ist schon ganz lahm.«
    Beim Frühstück sprach Herr Aumann Frau Lötsche ein Lob aus, was sonst eher selten vorkam. »Sehr eindrucksvoll das Ganze, Kollegin Lötsche. Schreiben Sie doch bitte einen ausführlichen Bericht. Ich werde ihn nach Wien schicken.«
    Inzwischen war es Ruth schon dreimal passiert: Sie hatte nachts ins Bett gemacht. Bislang war es niemandem aufgefallen. Nach wie vor stand sie ja schon um halb sieben auf, weil sie zum Unterrichtsbeginn pünktlich um acht im Dorf sein musste. Die anderen Mädchen im Zimmer schliefen dann noch. Ruth nutzte die Gelegenheit, brachte die nasse Bettwäsche in die Waschküche und nahm aus dem großen Wäscheschrank heimlich ein Betttuch und ein frisches Handtuch. Das breitete sie zwischen Betttuch und Matratze aus. Sie wusste, dass sie nicht die einzige Bettnässerin im Haus war, doch sie hatte auch mitbekommen, dass die anderen oft gehänselt und ausgelacht wurden. Frau Krase hatte das im Unterricht einmal offen angesprochen und den Mädchen jeden Spott darüber streng untersagt.

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