So weit die Wolken ziehen
vorkommen.«
Paula Scheering, die beste Schülerin der Klasse, machte sich zur Sprecherin für die anderen. »Und wie soll das Ihrer Meinung nach gehen? Sie wissen doch, dass wir im Herbst unser Abitur machen. Wir nutzen jede Minute zum Lernen.«
»Abitur, Reifeprüfung«, antwortete Schwester Nora. »Das, was ich euch vorschlage, wird euch helfen, wirklich reif fürs Leben zu werden.«
»Also, was erwarten Sie von uns?«
»Was haltet ihr davon, wenn ihr bei den Kindern jeden Abend, sobald sie ins Bett gehen, einen kurzen Besuch macht? Selbstverständlich geht ihr nicht alle zusammen in jedes Zimmer. Teilt es euch ein. Gebt den Mädchen wenigstens die Hand und wünscht ihnen eine gute Nacht. Und wenn ihr noch etwas mehr von eurer Lernzeit abzwacken könnt, dann tragt ihnen ein Gedicht vor, singt ein Abendlied oder lest eine kurze Geschichte. Das wird nicht nur für die Kleinen ein guter Tagesabschluss sein.«
Einen Augenblick lang wirkten die Mädchen unentschlossen. Aber dann sagte Erika Beckmann, die sonst nur selten freiwillig den Mund aufmachte: »Wir können es ja versuchen. Aber werden die Kleinen das überhaupt mögen?«
»Sie werden«, versicherte Schwester Nora. »Ganz sicher, denen wird es gefallen. Und vergesst die kleine Zarski nicht.«
»Aber die schläft doch bei den älteren Mädchen«, wandte Paula ein. »Das sind keine kleinen Kinder mehr. Die werden über uns lachen, wenn wir den Abendclown machen.«
»Am Abend ist jede Schülerin noch ein Kind. Ich wette mit euch, dass es gut geht.«
»Was werden Sie tun, Schwester Nora, wenn Sie die Wette verlieren?«
»Ich werde am Karnevalsabend nicht nur ein Lied von Zarah Leander singen, sondern mir auch noch eine Perücke aufsetzen, damit ich so aussehe wie sie.«
Lachend verließen die Mädchen das Schwesternzimmer.
»Die Nora, das ist schon eine besondere Nummer. Die ist außen hart wie ein Kieselstein und innen weich wie Butter«, sagte Erika.
Die sechs Abendengel, wie sie genannt wurden, waren zunächst noch ein wenig befangen und steif. Als sie aber die Dankbarkeit der Mädchen zu spüren begannen, wurden sie mutiger. Einmal allerdings brachte Erika die Mädchen in der Stube, die sie betreute, zum Weinen. Sie trug die Ballade Die Schnitterin von Gustav Falke vor. Darin ging es um eine Mutter, deren Sohn ein Verbrechen begangen hatte. Sein Herr, ein Graf, wollte ihn hängen lassen. Die Mutter beschwor den Grafen, ihrem letzten Sohn das Leben zu schenken. Er stimmte zu, wenn sie bis zum Sonnenuntergang drei Äcker Getreide gemäht habe. Er verhöhnte die Mutter, denn jeder wusste, dass das unmöglich war. Erika zitierte leise die letzten Strophen:
»So trieb er Spott, gar hart gelaunt,
und ist seines Weges geritten.
Am Abend aber, der Strenge staunt,
drei Äcker waren geschnitten.
Was stolz im Halm stand über Tag,
sank hin, er musst es schon glauben.
Und dort, was war’s, was am Feldrand lag?
Sein Schimmel stieg mit Schnauben.
Drei Äcker Gerste ums Abendrot
lagen in breiten Schwaden.
Daneben die Mutter. Und die war tot.
So kam der Knecht zu Gnaden.«
Erika hatte kein gutes Gefühl, als sie die Wirkung ihres Vortrags bei den Kleinen sah. Sie hatte nicht erwartet, dass der Text den Kindern so zu Herzen gehen würde, zumal Frau Krase gesagt hatte, das sei eine sentimentale Schnulze. Eilig gab sie jedem Kind die Hand und wünschte eine gute Nacht. Am nächsten Tag wurde sie jedoch von einigen Mädchen aus anderen Stuben gedrängt, das Gedicht auch bei ihnen vorzutragen.
»Meint ihr das wirklich ernst?«, fragte sie. Da antwortete ein Mädchen: »Das Gedicht muss wunderbar sein. Klara hat gesagt, sie hätte noch nie so schön weinen können.«
Paula, die zuerst wenig Lust hatte, die Kleinen abends in den Stuben zu besuchen, schlug vor, auch einmal Theater zu spielen. Ihrer Meinung nach würde sich das Märchen Des Kaisers neue Kleider gut dafür eignen. Ein paar Tage später begannen sie, einige Theaterszenen einzuüben. Bald stellten sie fest, dass sie sich hier und da von der Vorlage lösen und frei mit dem Märchentext umgehen mussten. Da kein Kind sich etwas Konkretes unter einem Kaiser vorstellen konnte, schlug Paula vor, statt der Figur des Kaisers den Reichsmarschall Hermann Göring einzuführen, der ja oft genug durch seine prunkvollen Uniformen Aufsehen erregte. Dieser Vorschlag ging den anderen zu weit. Außerdem sei es verboten, sich über den Staat und seine Führer lustig zu machen. Aber auch ohne Göring gab es für die
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