So weit die Wolken ziehen
Abendengel schon Tage vor der Aufführung so viel zu lachen, dass Paula sagte: »Ob Des Kaisers neue Kleider den Kindern gefallen wird oder nicht, das kann uns eigentlich egal sein. So lustige Abende wie bei den Proben hatten wir selten in diesem Haus.«
Der Termin für die Premiere wurde festgesetzt. Alle jüngeren Mädchen sollten sich heimlich in Stube 105 schleichen. Je näher der Tag heranrückte, desto größer wurde das Lampenfieber. Die Spielerinnen fragten sich, ob es wirklich gelingen könnte, die Zuschauerinnen in das Spiel einzubinden. Das genau hatte Erika nämlich vorgeschlagen. Die Kinder sollten das Volk spielen. Fast dreißig Zuschauerinnen hockten erwartungsvoll auf den Betten in Stube 105. Sie hatten sich in ihre grauen Wolldecken warm eingehüllt.
»Seid nicht zu laut«, mahnte Paula. »Sonst kommt der Direktor herein und aus ist es mit unserem Theater.«
Auf Kulissen hatte die Spielgruppe verzichtet. Eine einzige Lampe nahe der Tür, die zu den Zuschauern hin abgeblendet war, beleuchtete den Raum. Weil sie keinen Gong hatten, schlug Erika dreimal mit einem Esslöffel gegen ein Wasserglas. Paula trat herein. Eine goldene Papierkrone und ein roter Umhang machten gleich deutlich, dass sie der Kaiser war.
»Was soll ich heute nur anziehen?« Mit diesen Worten begann das Spiel. Der Kaiser wechselte den roten Umhang gegen einen gelben. Dann rief er seinen Kammerherrn herein und fragte ihn nach seiner Meinung. So ging es eine ganze Weile. Gerade als der Kaiser in den großen Kleiderschrank hineinkroch und ein weiteres Kleid hervorzog, betrat ein junger Mann die Szene. Er wollte den Kaiser allein sprechen. Mit blumigen Worten pries er seine Künste an. Ganz besonders exquisite Stoffe mit herrlichen, nie zuvor gesehenen Mustern könne er weben und Kleider daraus nähen … Er schnalzte mit der Zunge. »Superb«, sagte er.
»Das Besondere daran ist, nur kluge Berater des Kaisers, die für ihr Amt wirklich taugen, vermögen, diese Kleider zu sehen. Dumme sehen gar nichts.«
Er übte seine Kunst mit ausladenden Armbewegungen aus, webte und nähte und hatte doch nichts in den Händen, keine Nadel, keinen Faden, kein Weberschiffchen. Stets verlangte er vom Kaiser mehr Geld für seine Arbeit und erhielt es auch. Nach und nach kamen die anderen Personen ins Spiel. Die vornehmen Betrachter sahen nichts und lobten doch alles. Wer wollte schon als dumm gelten? Schließlich begann die letzte Szene. Der Kaiser beschloss, sich seinem Volk in dem neuen Festgewand zu zeigen. Paula stolzierte in ihrer Unterwäsche durch die Stube. Die Kinder spielten prächtig mit. Die meisten Mädchen kannten Andersens Märchen.
»Allerliebst!«
»Wunderhübsch!«
»Welch köstliche Muster! Was für leuchtende Farben!«
»Exzellent!«
Schließlich sagte Erika das Wort, das ihr besonders gefallen hatte: »Magnifique!« Das war zugleich das Stichwort für Ruth. Erika hatte ihr gesagt: »Wenn ich das Wort magnifique deklamiere, dann bist du an der Reihe, Ruth. Dann rufst du ganz laut: Der Kaiser hat ja gar nichts an.«
Mit einer kleinen Verzögerung sprach Ruth ihren kurzen Text. Sofort wurde von den Schauspielerinnen getuschelt. »Nichts an! Wie dumm von der Kleinen.«
Aber dann mehrten sich die Stimmen der Zuschauerinnen: »Nichts hat er an, gar nichts.«
Sie vergaßen, dass sie eigentlich leise sein sollten. Die Tür zur Stube wurde aufgerissen. Allerdings kam nicht der Direktor herein, sondern Dr. Scholten. Er sah die Schülerinnen verblüfft an.
»Was ist denn das hier für ein Theater?«
»Genau. Es ist Theater. Wir haben das Stück Des Kaisers neue Kleider vorgespielt«, erklärte Paula.
Dr. Scholten schwankte, ob er schimpfen oder lachen sollte. Schließlich setzte er sich auf einen Hocker und sagte: »Nun, dann spielt es noch einmal. Ich möchte es sehen.« Die Spielschar ließ sich nicht lange bitten, und als die Kinder am Ende riefen: »Der hat ja gar nichts an!«, klatschte Dr. Scholten begeistert Beifall. Er sagte: »Das müsst ihr unbedingt aufführen, wenn die Eltern Ende des Monats zu Besuch kommen.«
»Ein Märchenspiel für Erwachsene?«, fragte Paula.
»Märchenfreuden sind nicht ans Lebensalter gebunden. Das empfindet ihr doch auch, nicht wahr? Und außerdem, Theater zu spielen, ist nicht der schlechteste Weg, der Dichtung auf die Spur zu kommen.«
Als Dr. Scholten in der Konferenz diesen Vorschlag unterbreitete, stimmten alle zu. Frau Lötsche stellte nun das gesamte Programm vor. Frau Krase
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