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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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äußerte noch einmal Zweifel, ob das Motto des Abends An Rhein und Ruhr sind wir geboren denn auch wirklich passe, aber Dr. Scholten sagte: »Das Einzige, was nicht passt, ist das Lied, das ich zum Schluss singen soll, weil es ja dort heißt En Köln am Rhing …«
    »Sie wollen sich nur vor dem Singen drücken, Herr Doktor«, unterbrach ihn Schwester Nora. »Aber wenn Sie nicht singen, dann tritt auch Zarah Leander nicht auf.«
    »Wir möchten nicht auf ihre kulturell wertvollen Beiträge verzichten«, sagte der Direktor ironisch.
    Ein organisatorisches Problem hatte Direktor Aumann selbst gelöst. Es war ihm gelungen, in den Gaststätten und Pensionen von Maria Quell genügend Unterkünfte für die Eltern zu finden. Er hatte sogar die Besitzerin des Gasthofs Bergblick überreden können, das Haus während der Elterntage wieder zu öffnen . Sie hatte ihren Betrieb geschlossen, als ihr Mann und ihre beiden Söhne zu den Soldaten mussten. Das Angebot von Frau Hirzel, auch im Tannenhof Gäste zu beherbergen, hatte der Direktor allerdings ausgeschlagen.
    »Also, auf zu frischen Taten«, ermunterte er das Kollegium, bevor er die Konferenz schloss.
    Der Sonderzug hätte längst eintreffen sollen.
    »Das ist heute nun mal so«, sagte Ruth. »Als ich mit Frau Brüggen hergefahren bin, hatten wir mehr als zehn Stunden Verspätung.«
    »Als wir damals hier ankamen, war es Sommer und es war warm. Der Zug hatte auch Verspätung, aber wir brauchten nicht zu frieren. Aber heute …« Irmgard schüttelte sich. »Ich hab schon eiskalte Füße. Und alles nur, weil wir ein Begrüßungslied singen sollen.«
    Zwei junge Rotkreuzschwestern schleppten einen Behälter mit warmem Pfefferminztee auf den Bahnsteig und begannen, ihn in Blechtassen auszuschenken. Es gab aber nur wenige Tassen. Als Ruth an die Reihe kam, war der Tee nur noch lauwarm.
    Es dämmerte schon, als die Lautsprecher aufrauschten und die Durchsage kam, der Zug werde in Kürze erwartet. Die Schülerinnen plapperten aufgeregt durcheinander. Irmgard spürte, dass ihr Herz bis zum Hals schlug. Hatte ihre Mutter in der Fabrik überhaupt Urlaub bekommen? Die Mädchen sahen den Zug wie einen Schatten allmählich aus der Dämmerung auftauchen. Der Lokführer ließ die Dampfsirene dreimal laut aufheulen. Bremsen quietschten. Dampf zischte auf. Der Zug stand. Die Türen wurden aufgestoßen. Die Besucher stiegen aus. Die Mädchen stellten sich auf Zehenspitzen und reckten den Hals. Am liebsten wären sie losgelaufen und hätten nach ihren Angehörigen gesucht. Aber Dr. Scholten hielt sie zurück und stimmte das Lied an: Guten Abend, guten Abend, euch allen hier beisamm. Die Blechbläser, die aus dem Dorf zur Begrüßung gekommen waren und sich im Wartesaal bereits mit einigen Maß Bier über die Verspätung hinweggetröstet hatten, wollten nicht warten, bis der Mädchenchor die Strophe zu Ende gesungen hatte, und begannen, den Marsch Alte Kameraden zu schmettern. Nun gab es für die Mädchen kein Halten mehr. Sie rannten auf die Besucher zu. Die Glücklichen, deren Eltern oder Verwandte gekommen waren, jubelten auf. Irmgard entdeckte ihre Mutter. Aber ihre Schwester Ruth war schneller. Frau Zarski umarmte sie. Irmgard blieb neben den beiden stehen. Tränen verschleierten den Blick der Mutter. Schließlich zupfte Irmgard an ihrem Ärmel. Die Mutter sah zur Seite und rief: »Irmgard, Mädchen! Wie gut, dass ich zwei Arme habe.« Sie drückte beide Kinder an sich und ließ sie erst los, als Frau Brüggen hinzutrat und sagte: »Ich möchte dich auch gern begrüßen, Cilli.« Die Schwestern umarmten sich.
    Der Direktor gab über Lautsprecher bekannt: »Verehrte Eltern. Wir sagen Ihnen ein herzliches Willkommen. Es ist spät geworden. In Maria Quell ist das Abendessen längst gerichtet. Ihr Gepäck wird mit einem Fuhrwerk in die Quartiere gefahren. Die Mädchen werden Sie begleiten und Ihnen den Weg zeigen. Nach dem langen Sitzen in den engen Abteilen werden Sie es sicher begrüßen, dass Sie nun gut zwanzig Minuten bergan gehen müssen. Für diejenigen, die Probleme mit dem Laufen haben, stehen vor dem Bahnhof einige Pferdewagen bereit. Scheuen Sie sich nicht, diese ungewöhnlichen Taxis zu benutzen. Die Gaststätten und Hotels in Maria Quell haben die Fahrgelegenheiten kostenlos zur Verfügung gestellt. Ich rufe Ihnen einen in unserer Heimat altbekannten Gruß zu. Heute allerdings hat er eine ganz neue Bedeutung. Der Weg ist nämlich an manchen Stellen ziemlich steil. Also: Glück

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