So weit die Wolken ziehen
Schnitzarbeiten, ein Schachkurs, Geschichte der deutschen Malerei, das alles gehörte zu Heidrun Czechs Einfällen. Immer wenn sich genügend interessierte Mädchen meldeten, fand sie auch einen Leiter. Sie zuckte selbst dann nicht zurück, als Dr. Scholten ihr das Weihnachtsgeschenk aus dem Kloster mit dem kunstvoll geschriebenen Lied zeigte. Sie hatte zwar das Wort Kalligrafie noch nie gehört, aber sie erkannte gleich, dass sich für eine solche Schriftkunst Liebhaberinnen unter den Mädchen finden würden.
»Dass Sie so etwas können, Herr Doktor«, sagte sie.
»Nicht ich habe das geschrieben. Es war Pater Lukas vom Kloster.«
Sie stutzte einen Augenblick, sagte aber dann: »Das Werk entscheidet. Nicht das Privatleben der Künstler. Oder?«
Nicht gerade im Sinne der Partei, dachte Dr. Scholten, aber er gab ihr recht und antwortete: »Ich glaube, sonst dürfte Goethe wegen seiner Liebschaften wahrscheinlich nicht gelesen werden.«
Frau Czech war von der Parteiführung darauf hingewiesen worden, dass ihr jeglicher Kontakt zu den Patres untersagt sei. Deshalb bat sie Dr. Scholten, er solle Pater Lukas für die Leitung des Kurses erwärmen.
Die Mädchen fanden sich schließlich damit ab, dass die LMF beim Stubenappell nach wie vor keine Nachlässigkeiten duldete. Strafen verhängte sie jedoch immer seltener. Als aber eines Morgens in einer Stube weder gelüftet noch gefegt worden war, mussten die Mädchen tagelang in ihrer Freizeit über einer schriftlichen Strafarbeit sitzen. Frau Czech hatte glattes weißes Schreibpapier aufgetrieben, das sicher nicht aus der Kriegsproduktion grau und holzig stammte.
»Es werden Flugblätter hergestellt, die wir am 20. April bei den Nachbarn und unten im Dorf verteilen werden. Mindestens fünf Exemplare davon muss jede von euch anfertigen.«
»Verteilen am Geburtstag von Adolf Hitler?«, fragten die Mädchen erstaunt.
»Genau. Ihr schreibt in eurer saubersten Sonntagsschrift den Lebenslauf unseres Führers auf. Für diejenigen, die seine Lebensdaten immer noch nicht auswendig können, ist das eine gute Übung. Außerdem kann gar nicht genug verbreitet werden, was für ein wunderbares Geschenk die Vorsehung dem deutschen Volk mit Adolf Hitler gemacht hat.«
Als Ruth Zarski später davon hörte, fragte sie Anna: »Was ist das eigentlich, die Vorsehung?«
Anna zog die Schultern hoch. »Ich nehme an, das ist etwas, was eigentlich Quatsch ist. Aber das solltest du besser nicht weitersagen.«
Dritter Teil
Der Winter zögerte in diesem Jahr lange, dem Frühling den Platz zu räumen. Selbst am Ostersonntag war noch einmal Schnee gefallen. Anna und einige andere Mädchen hätten sich gern zum festlichen Ostergottesdienst geschlichen, aber den geheimen Weg durch das Stubenfenster und über das Dach wollten sie nicht gehen. Ihre Fußspuren hätten sie sowieso verraten. Außerdem vermutete Irmgard, dass es unter der dünnen Neuschneedecke glatt sein könnte.
»Wenn es über das Dach gefährlich ist und wir sowieso auffallen, können wir auch durch die Tür in der Halle gehen«, schlug Anna vor. »Ich glaube nicht, dass uns jemand mit Gewalt daran hindern wird.«
Ruth erinnerte sich, welche Angst sie ausgestanden hatte, als die Mädchen sie in der Christnacht allein in der Stube zurückgelassen hatten. Damals hatte sie angefangen einzunässen. Aber Schwester Noras Zaubertee hatte ihr geholfen, allmählich davon loszukommen. Sie sagte: »Diesmal könnt ihr mich nicht ausschließen. Ich bin dabei.«
Irmgard drückte aus, was wohl alle dachten: »Die Stube 215 geht geschlossen zur Kirche, wenn ihr, Hilde und Gerda, mitwollt. Ich meine, weil ihr doch evangelisch seid.«
»Sind wir Weihnachten nicht auch mit euch in der Kirche gewesen? Haben wir euch jemals bei den Lehrerinnen angeschwärzt, wenn einige von euch sonntags zu eurer Messe ins Kloster rübergegangen sind?«
»Nein. Ihr seid keine Klatschbasen.«
»Uns wird hier viel zu viel verboten«, sagte Gerda. »Ab und zu müssen wir aus diesem Käfig ausbrechen. Wir gehen mit. Außerdem sind wir neugierig. Hilde hat gehört, dass in eurer Messe etwas ganz Verrücktes passiert. Erzähl doch mal, Hilde.«
»Ich weiß gar nicht, ob das wirklich stimmt. Die Vroni aus der Küche hat es mir gesagt. In der Kirche soll ein Heiliges Grab oder so was sein. Da liegt eine Jesusfigur drin. Ostern soll gezeigt werden, wie er aus dem Grab aufersteht.«
»Quatsch«, sagte Anna entrüstet. »Lauter dummes Geschwätz.«
»Sie hat’s mir aber
Weitere Kostenlose Bücher