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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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erzählt. Außerdem, wir werden ja sehen, ob’s stimmt.«
    Es war eine helle Mondnacht, als sie aus dem Haus gingen. Die Kirche war voller Menschen. Nur eine einzige Lampe brannte. Weiter vorn fanden die Mädchen noch Platz in einer freien Bank. Eine kleine, dünne Kerze lag für jeden bereit. Als die Feier begann, erlosch auch die letzte Lampe. Auf einem eisernen Rost im Seitenschiff wurde ein kleines Osterfeuer angezündet. Von dort aus zogen die Patres und mit ihnen viele Messdiener auf den Altar zu. Pater Martin trug eine dicke Osterkerze, die am Osterfeuer entzündet worden war. Lumen Christi schallte es dreimal durch den Raum und jedes Mal wurde ein wenig höher angestimmt. Von der großen Kerze breitete sich das Licht im Kirchenraum aus und schließlich hielt jeder seine brennende Kerze in den Händen. Nicht weit vom Altar entfernt war eine farbig bemalte Truhe aufgestellt, das Heilige Grab. Feierlich vorgetragene Texte und Gebete klangen auf und dann endlich, die Kerzen waren schon fast heruntergebrannt, tönte ein Ruf durch die Kirche: »Christus ist auferstanden, wahrhaftig, er ist auferstanden.« Währenddessen zogen vier Messdiener die Christusfigur an Stricken aus der Truhe hoch, bis sie aufrecht stand. Nur einen kurzen Augenblick war sie zu sehen. Dann löschten alle in der Kirche ihre Kerzen. Die Mädchen machten es ihnen nach. Nur die Osterkerze brannte noch. Aber noch bevor sich die Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, wurde das Heilige Grab weggetragen und wieder in das Seitenschiff gestellt, wo es das ganze Jahr über seinen Platz hatte. Einige Mädchen begannen zu kichern. Sofort zischten die hinter ihnen stehenden Einheimischen empört. Alle Lichter in der Kirche strahlten auf. Ihr Licht schien nach der Dunkelheit heller als sonst. Nach der Messe schenkten einige Frauen vor der Kirchtür jedem ein bemaltes Osterei und wünschten Gesegnete Ostern.
    »Woher die Frauen nur die vielen Eier haben?«, fragte Irmgard. »Es stand doch vorige Tage in der Zeitung, dass jedem zu Ostern nur zwei Eier zugeteilt werden.«
    Ein alter Mann, der Irmgards Frage gehört hatte, blieb stehen und sagte: »Eine Eierlegezählmaschine für den Hintern der Hühner ist zum Glück noch nicht erfunden worden.« Er lachte und ging weiter.
    »Wird es das erste und letzte Osterfest sein, das wir in Maria Quell feiern?«, fragte Anna.
    Niemand konnte ihr eine Antwort geben.
    Tage später fragte sie Pater Martin, was das denn mit der Christusfigur für ein Zirkus gewesen sei. Es habe sie an das Buch Kai aus der Kiste erinnert.
    »Als ich vor Jahren hergekommen bin, fand auch ich den Brauch unpassend. Ich schlug in der Runde der Mitbrüder vor – wir waren damals zwölf –, das Spektakel abzuschaffen. Keiner ging darauf ein. Sie schauten mich, den jungen Mann aus dem Westen, nur befremdet an. Bruder Konrad nahm mich am Abend zur Seite und sagte: ›Immer haben sich die Menschen das Unbegreifliche vorstellen wollen. Immer sind ihre Mühen letzten Endes vergeblich gewesen. Thomas von Aquin war der wohl gelehrteste Mönch im Mittelalter. Es wird berichtet, dass er sich mit seinem Freund viele kluge Gedanken darüber gemacht hat, wie man sich die Auferstehung und das Leben nach dem Tode denken müsse. Sie sind nicht zu einem Ende gekommen. Die Freunde haben sich deshalb fest versprochen, dass der Erste, der von ihnen sterben müsse, dem anderen im Traum erscheinen solle. Er könne dann ja eine sichere Auskunft geben. Thomas’ Freund sei als Erster gestorben. Und wirklich, drei Nächte später habe ihn Thomas im Traum gesehen. Er habe sein Versprechen gehalten.‹«
    »Und was hat er gesagt?«
    »Nur zwei Wörter soll er gesprochen haben: Totaliter aliter, alles ganz anders. Daran hätte Thomas vielleicht erkennen können, dass all seine Gedankengespinste auch nichts anderes waren als das, was in Maria Quell in der Osternacht mit dem Heiligen Grab geschieht: nur ein matter Hauch von Gottes rätselhafter Herrlichkeit.«
    Anna war nachdenklich geworden. Den Kai aus der Kiste hat sie nie mehr erwähnt.
    An Adolf Hitlers fünfundfünfzigstem Geburtstag fand im Quellenhof am Vormittag eine fast dreistündige Feier statt. Dr. Scholten wiederholte in seiner Rede nur das über Hitler, was die Mädchen schon häufiger von ihm gehört hatten: Er sei ein Geschenk der Vorsehung und habe das Vaterland in den finstersten Jahren nach dem letzten Krieg gerettet. Adolf Hitler verkörpere den Aufstieg zum Großdeutschen Reich von der Maas

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