Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
Vom Netzwerk:
bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt , die Volksgemeinschaft, den heldenhaften Kampf an den Fronten, den Endsieg.
    Gerda Nienveen gehörte zu denen, die zur Strafe den Lebenslauf des Führers mehrmals hatten abschreiben müssen. Sie trug den Text auswendig vor: »Unser geliebter Führer Adolf Hitler wurde am 20. April 1889 in Braunau am Inn als Sohn …«
    Hier spätestens hatten die meisten abgeschaltet. Die wenigen, die aufmerksam zuhörten, hatten gewettet, ob sie stecken bleiben würde oder nicht.
    Es folgten die bekannten Lieder, einige markige Sprüche und schließlich Deutschland, Deutschland über alles und Die Fahne hoch.
    »Mit der Fahne, das ist ja nicht so anstrengend«, sagte Anna. »Aber dass wir während des Singens die ganze Zeit den Arm zum Gruß hochhalten müssen, daran werde ich mich wohl nie gewöhnen.«
    Am nächsten Morgen entdeckten die Mädchen der Stube 215 etwas, das für helle Aufregung sorgte. Als die Verdunkelung hochgezogen wurde, fanden sie einen Zettel, der in der Nacht von außen an die Fensterscheibe geklebt worden war. Irmgard löste ihn vorsichtig ab und las vor:
    »Mädels, lasst das Fenster auf,
ich komme dann im Dauerlauf,
bring Lust und Freude in der Nacht,
wie ihr’s euch oft schon ausgedacht.«
    Als Ruth damit zum Direktor laufen wollte, sagte Anna: »Sollen wir nicht doch das Fenster in der kommenden Nacht offen lassen und mal abwarten, was da hereinschneit?« Die anderen widersprachen empört.
    »Dich sticht wohl der Hafer«, rief Irmgard. »Kannst du dir den Skandal vorstellen, wenn das rauskommen würde?«
    Noch vor dem Frühstück gingen sie zu Direktor Aumanns Zimmer, klopften an und übergaben ihm den Zettel.
    Er ermahnte die Mädchen, kein Wort von dieser Sache weiterzutragen. Das würde nur Angst schüren. Sie könnten ganz beruhigt sein. Er würde geeignete Maßnahmen ergreifen, damit sich so etwas nicht wiederhole.
    In der Besprechung des Kollegiums am Nachmittag waren die Meinungen geteilt. Frau Lötsche sprach wohl für die Mehrheit. Sie forderte, sofort die Polizei zu benachrichtigen. Dr. Scholten meinte, man solle nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen, es handele sich wahrscheinlich um einen Dummejungenstreich. Schwester Nora schloss sich der Ansicht von Dr. Scholten an. Sie bot an, sich mit einigen Personen aus dem Kollegium auf die Lauer zu legen und dem übermütigen Kerl eine Lektion zu erteilen.
    Herr Aumann entschied sich aber dafür, nach den Vorschriften zu handeln und das anstößige Schreiben an die beiden Polizisten im Dorf weiterzuleiten. Auch solle bei einem Kontrollgang am Abend geprüft werden, ob auch alle Fenster geschlossen worden seien.
    »Wir ziehen die Verdunkelung nicht runter«, sagte Anna. »Wäre doch schade, wenn wir nicht mitbekämen, was in der Nacht passiert. Ich bin dafür, dass wir Wache schieben. Jede von uns steht eine Stunde lang am Fenster und passt auf. Wenn sich was rührt, möchte das doch wohl niemand verschlafen, oder?«
    Sie losten die Reihenfolge der Nachtwachen aus. Lange geschah nichts. Um vier Uhr war Irmgard an der Reihe. In ihren dicken Mantel gehüllt, hockte sie halb schlafend auf der Fensterbank. Sie fror, presste die Arme eng um ihren Körper und verwünschte die Nachtwachenidee. Wie lang doch eine Stunde sein konnte! Mehrmals schaute sie auf die Leuchtziffern ihrer Armbanduhr. Noch zehn Minuten bis fünf, dachte sie und gähnte. Doch plötzlich schreckte sie auf und war hellwach. Da rührte sich etwas auf dem Dach. Eine Gestalt schlich geduckt auf das Haus zu. Irmgard weckte leise die anderen.
    »Es ist so weit«, flüsterte sie. »Er kommt.«
    Bis auf Ruth, die nicht aus dem Schlaf zu holen war, standen alle am Fenster und spähten hinaus. Die Nachtgestalt hatte das Haus noch gar nicht erreicht, da leuchteten plötzlich starke Taschenlampen auf, halblaute Befehle waren zu hören, Handschellen klickten. Der Mann wehrte sich nicht und wurde abgeführt. In dieser Nacht schlief keines der Mädchen mehr.
    Nur Ruth hatte von alldem nichts mitbekommen. Sie beklagte sich später bitter darüber. »Ihr seid gemein«, murrte sie. »Immer sperrt ihr mich aus, wenn’s spannend wird.«
    »Gib dich zufrieden«, sagte Irmgard. »Zu dir, kleiner Spatz, hat der Kerl bestimmt nicht kommen wollen.«
    Als nach dem Mittagessen die Post ausgeteilt worden war, machte der Direktor wie üblich bekannt, welche Sondermeldungen es im Funk gegeben hatte, wie viele Fliegende Festungen der Alliierten abgeschossen worden

Weitere Kostenlose Bücher