So weit die Wolken ziehen
eine Last auf die Schultern gelegt worden. Als ich in den Zug stieg, der mich hierherbringen sollte, fand ich keinen freien Platz mehr. Und dann geschah etwas, das ich in den letzten Jahren nicht mehr erlebt habe. Ein junger Soldat stand auf und bot mir seinen Platz an.
Was soll jetzt nur werden, seufzte eine ältere Frau. Keiner antwortete ihr. Sie starrte mit leerem Blick aus dem Fenster. Die ganze Zeit über, bis der Zug unten am Bahnhof stoppte, blieb sie wie tot auf ihrem Platz sitzen. Ich konnte nicht anders und sprach sie beim Aussteigen an. Es wird bestimmt alles wieder gut, habe ich zu ihr gesagt und sie an der Schulter berührt.
Plötzlich kam Leben in ihren Blick. Sie schaute mich ernst an und antwortete: Für meine Familie wohl kaum. Ich versuche immer noch, einen Sinn in ihren Worten zu finden. Vielleicht hatte jemand aus ihrer Familie etwas mit dem Attentat zu tun?«
Direktor Aumann informierte Frau Krase über das, was sie noch nicht wissen konnte: »Es gibt inzwischen neuere Meldungen. Der Duce hat seinen Besuch im Hauptquartier in der Wolfsschanze nicht abgesagt. Der Führer hat Mussolini an den Ort der Verwüstung geführt und ihm die Stelle gezeigt, an der die Bombe, nur wenige Meter von ihm entfernt, hochgegangen ist.«
»Was immer auch geschehen sein mag, der Führer lebt!«, rief Frau Lötsche. Etwas zu laut, dachte Dr. Scholten.
Bevor sie auseinandergingen, bat Herr Aumann: »Dr. Scholten, Sie werden den Mädchen bestimmt auf geeignete Weise das erschreckende Vorkommnis beim Abendessen mitteilen. Ich kann hier nicht von dem Radio weg. Wenn neue Meldungen eintreffen, informiere ich Sie.« Dann wandte er sich an Frau Lötsche: »Bitten Sie doch Frau Zitzelshauser, sie soll mir ein paar Schnittchen und ein Kännchen Pfefferminztee ins Büro bringen lassen. Ich habe seit heute Morgen nichts mehr gegessen.«
Dr. Scholten forderte die Mädchen auf, sich von ihren Plätzen zu erheben, und teilte ihnen dann mit, was geschehen war.
Später flüsterte er Schwester Nora zu: »Es war mir höchst unangenehm, dass ich schon wieder die Vorsehung bemühen musste, um Hitlers Überleben zu erklären.«
»Vermutlich hatte Hitler einfach nur ein unbegreifliches Glück«, vermutete die Schwester. »Übrigens hatte ich den Eindruck, dass den Mädchen das alles schon bekannt gewesen ist. Sie zeigten sich kaum überrascht. Neuigkeiten verbreiten sich hier so schnell wie seinerzeit die Wanzen im Tannenhaus.«
Gegen neun Uhr, in den Stuben der Mädchen war gerade das Licht gelöscht worden, hieß es im Radio, dass Adolf Hitler über den Rundfunk zu allen Deutschen sprechen werde. Direktor Aumann informierte die Kollegen. Wer nicht über ein Radio verfüge, sei eingeladen, wieder in sein Büro zu kommen. Er werde auf jeden Fall auf die Ansprache warten, ganz gleich, wann die Übertragung beginne.
Einige nahmen das Angebot des Direktors an. Frau Krase, Frau Brüggen und Schwester Nora trafen sich jedoch bei Dr. Scholten. Die Stunden zogen sich hin. Dr. Scholten bot ein Glas Wein an und sagte: »Wenn wir schon an diesem Abend beieinandersitzen und ein Glas in die Hand nehmen, dann … na, ich schlage vor, dass wir Brüderschaft trinken und uns ab heute mit Du anreden.«
»Brüderschaft mit drei Frauen«, spottete Frau Krase. Aber alle hatten das Gefühl, dass dieses Angebot längst überfällig war. Sie verzichteten auf das übliche Küsschen und tranken sich zu. Frau Brüggen sagte: »Ihr wisst, dass Luise Krase und ich schon lange Du zueinander sagen. Aber vor den Kindern klingt uns das zu vertraulich. Ich bin dafür, dass wir nach außen die alte Sie-Anrede beibehalten. Unsere Schülerinnen könnten sich sonst ein Beispiel an uns nehmen. Und dir, Otto, wäre es sicher auch nicht recht, wenn sie dich mit unser Otto anredeten.«
Dr. Scholten stimmte zwar zu, doch er lachte dabei. Er wusste längst, dass die Mädchen ihn Onkel Otto nannten. Als die kleine Zarski neu ins Haus gekommen war, hatte sie ihn ganz unbefangen mit Onkel Otto angeredet. Er hatte sie dann freundlich aufgefordert, ihn Dr. Scholten zu nennen. Das sei sein Name. Ruth war verlegen geworden, hatte auf dem Ende ihres Zopfs gekaut und war ihm tagelang aus dem Weg gegangen.
Es war schon nach Mitternacht, als Hitler mit heiserer Stimme seine Ansprache begann. Er fasste sich jedoch viel kürzer als bei seinen anderen Reden, sprach über das Verbrechen, das in der deutschen Geschichte seinesgleichen suche, und nannte die Attentäter eine ganz
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