So weit die Wolken ziehen
anderer Heiliger. Die Bolschewisten haben das nicht mehr geduldet. Kurzum, Nikolaus hat mich zu euch gesandt. Er hat mir aufgetragen, euch vom Himmel zu erzählen.«
Er machte eine kleine Pause, und weil ihm nicht recht einfiel, womit er beginnen sollte, forderte er die Mädchen auf, sie sollten ihm Fragen stellen, wenn sie wissen wollten, wie es im Himmel zugeht.
Ein Mädchen aus der Eingangsklasse machte den Anfang. »Werden wir im Himmel Kakao bekommen?«
»Kind, wenn du im Himmel wirklich Kakao trinken willst, dann bekommst du so viel davon, wie du magst.«
»Sind unsere Feinde hier auf der Erde auch im Himmel unsere Feinde?«, fragte eine andere.
»Nein, Kind. Im Himmel sind alle wie Brüder und Schwestern.«
»Und es gibt niemals Krieg im Himmel?«
»Dort herrscht ein großer Friede. Niemand hat mehr Angst vor Bomben, Tieffliegern und vor Menschen, die aufeinander schießen. Es gibt keine Schreckensnachrichten mehr, keine Erbfeinde, keine Wunderwaffen …«
An dieser Stelle hörte Dr. Scholten, wie Schwester Nora sich laut räusperte. Er bemerkte, dass er Gefahr lief, alle Vorsicht zu vergessen. Deshalb sagte er: »Ein wunderbarer Friede eben.«
»Ewige Ruhe?«, wollte Anna wissen.
»Wohl eher ewiges Leben. Und auch kein ständiges Hallelujasingen. Leben eben, pralles, volles Leben.«
»Und Gott?«
»Wir werden ihn sehen, wie er ist. Aber das kann ich euch nicht beschreiben. Dazu reicht die Sprache der Menschen nicht. Und nun, ihr Erdenkinder, muss der Nikolausbote weiterziehen. Im nächsten Jahr, das wünsche ich euch, wird Nikolaus bestimmt selber wieder kommen können. Gott segne euch.«
Er verließ den Raum.
»Es war zwar ein kurzer Besuch«, flüsterte Frau Brüggen Frau Krase zu, »aber Otto gelingt es immer wieder, uns zu überraschen.«
»Ich gehe gleich zum Kloster zu einem Pater«, sagte Anna zu Ruth. »Ich habe eine Idee für ein Weihnachtsgeschenk. Willst du mit?«
»Wozu brauchst du dafür den Pater?«
»Wirst du schon sehen.«
In der Kirche trafen sie Pater Martin.
»Na, wollt ihr vor dem Gnadenbild beten?«, fragte er.
»Ich wollte diesmal Sie um etwas bitten«, antwortete Anna.
»Na, dann mach das.« Er setzte sich in eine Kirchenbank.
»Ich brauche dringend Kerzenwachs«, sagte Anna. »Sie schneiden doch alle paar Tage die Nasen von den Kerzen ab. Und am Marienbild, wo die Leute die kleinen Kerzen aufstellen, gibt es viele Wachsreste. Das wäre genau das Richtige für mich.«
»Was willst du damit machen?«
»Ich möchte Kerzen gießen. Das wären schöne Weihnachtsgeschenke für meine Mutter und meine Verwandten.«
»Und du weißt, wie man das macht?«
»Sicher. Zu Hause haben wir öfter aus Kerzenresten neue Kerzen gegossen. Das Wachs flüssig machen, einen Docht in eine Pappröhre spannen und das Wachs hineingießen.«
»Ja, das mag gehen. Kommt mit in die Sakristei. Dort sammle ich die Reste in einem Karton. Nimm dir, so viel du brauchen kannst.«
»Danke, Pater Martin. Für Sie brauche ich wohl keine zu gießen? Ich meine, weil Sie doch genug Kerzen haben.«
»Kerzen sind, wie alles heute, knapp. Wenn du mir eine Kerze schenken willst, werde ich sie in der Christmette in einem Leuchter auf den Altar stellen.«
Die Mädchen bedankten sich noch einmal herzlich.
»Gießt du mir auch eine Kerze?«, bettelte Ruth. »Eine ganz kleine wenigstens.«
»Morgen in der Freizeit werde ich mit dem Gießen anfangen. Wenn du Lust hast, dann kannst du mir helfen.«
»Und ob ich Lust dazu habe.«
Frau Zitzelshauser erlaubte den beiden Mädchen, die Küche für das Kerzengießen zu benutzen. Aber außer dem Zerkleinern der Reste konnte Ruth nichts tun. Sie setzte sich an den Tisch, nahm einen Kerzenrest in die Hand und knetete ihn. Allmählich wurde das Wachs weich und formbar. Nach und nach wuchs unter ihren Fingern ein Gesicht. Sie zeigte es Anna.
»Gut gelungen«, lobte die. »Ein Pausbackengesicht. Könnte glatt Dr. Matheck sein.«
Schwester Nora war in die Küche gekommen. Auch sie schaute sich an, was Ruth gemacht hatte.
»Nicht schlecht«, sagte sie. »Du bringst mich auf eine Idee.«
Sie bat Anna um etwas von ihren Wachsvorräten und ging damit hinaus. An der Tür von Dr. Scholten klopfte sie und ging hinein. Hastig schaltete er sein Radio aus.
»Du lernst es nie, Otto. Eines Tages erwischt dich einer und meldet, dass du Feindsender hörst.«
»Russischer Angriff auf Budapest«, sagte er aufgeregt. »Zwischen Wien und Budapest liegen nur gut zweihundert
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