So weit die Wolken ziehen
Kilometer, Nora.«
»Denk nicht dauernd daran, was in vielen Wochen möglicherweise eintreten kann. Lass uns lieber die nahe liegenden Probleme lösen.«
»Und welche sind das, deiner Meinung nach?«
»Zum Beispiel, wie wir diesmal das Weihnachtsfest hier im Haus feiern.«
»Na, wie schon? Frau Lötsche hat durch die neuen Kolleginnen Verstärkung bekommen. Kein Es ist ein Ros’ entsprungen also, sondern O Tannenbaum und Wintersonnenwende. Vielleicht wird Aumann mich wieder zu einer Ansprache verdonnern und ich werde unseren Erlöser Hitler mit dem Satz zitieren: Ich allein kann den Krieg zu einem siegreichen Ende führen.«
»Hör auf, Otto.« Die Schwester wurde wütend. »Warum lässt du dich immer vor Aumanns Karren spannen? Warum hältst du dich nicht zurück?«
»Nora, ich bin kein Held. Ich denke auch, wenn ich mit den Wölfen heule, kann ich vielleicht mehr bewirken, als wenn ich mich verweigere.«
Sie schwiegen einige Minuten lang und hingen ihren Gedanken nach. Schwester Nora atmete tief durch, holte eine Kerzenwachskugel aus ihrer Tasche und sagte: »Otto, ich weiß, dass du früher mal aus Wachs Köpfe für Krippenfiguren geformt hast. Deine Frau hat aus Stoffresten Körper und Kleider genäht. Du hast es mir selbst erzählt, dass euer Sohn und ihr selbst viel Freude an dieser Krippe hattet.«
»Stimmt, Nora. Aber die Krippe gibt’s nicht mehr. Das Wachs ist geschmolzen, die Figuren verbrannt, als unser Haus bei dem Angriff im Oktober zur Brandruine wurde.«
»Was hältst du davon, eine neue Krippe zu bauen? Du die Köpfe, ich die Körper und die Kleider. Wir stellen sie hier in deinem Zimmer auf. Nach der offiziellen Feier laden wir einige Mädchen ein. Du liest die Weihnachtsgeschichte vor und gemeinsam singen wir zum Beispiel Es ist ein Ros’ entsprungen.«
»Es sind nur noch wenige Tage bis Weihnachten, Nora.«
»Genau noch zwei Wochen. Wir können uns ja auf wenige Figuren beschränken. Wenn du heute noch anfängst …«
»Ist verlockend, Nora. Ich habe Anna und Lydia Mohrmann im vorigen Jahr erzählen hören, wie sie zu Hause den Heiligen Abend gefeiert haben. Ich könnte die beiden bitten, das einmal aufzuschreiben und hier vorzulesen.«
»Heißt das, du stimmst zu?«
»Wer könnte dir schon widerstehen? Also her mit dem Wachs.«
Es hatte einen ganzen Tag lang und bis in die Nacht hinein geschneit. Am nächsten Morgen glänzte die Schneedecke im Sonnenlicht. Lydia bekam nach Schulschluss von Heidrun Czech den Auftrag, auf ihren Skiern ins Dorf hinunterzufahren und sich beim Bürgermeister zu erkundigen, ob die angekündigte Lieferung endlich eingetroffen sei.
»Welche Lieferung?«, fragte Lydia.
»Er weiß schon Bescheid. Wenn wir Glück haben, wird es eine Weihnachtsüberraschung für euch geben. Aber es soll eine Überraschung bleiben. Wenn du zufällig im Dorf erfährst, worum es sich handelt, verrate den anderen kein Wörtchen, klar?«
»Ich werde schweigen wie ein Grab«, versprach Lydia. »Ich kann mir von Irmgard Zarski die hohen Schuhe leihen. Wenn ich ein Paar dicke Wollsocken anziehe, passen sie mir. Meine alten Schuhe habe ich verschenkt. Ich will mir nicht noch einmal Blasen an den Füßen holen.«
»Ich lasse dir das Mittagessen zurückstellen, bis du wieder hier oben bist.«
»Gut, Heide. Aber bitte eine große Portion. Es gibt heute Semmelknödel mit Trockenpflaumen, meine Lieblingsspeise.«
»Keine Sorge, wir lassen dich schon nicht verhungern.«
In der Amtsstube des Bürgermeisters fiel Lydia sofort auf, dass etwas Besonderes geschehen sein musste. Drei Männer in Uniform und auch die zwei Frauen aus dem Büro hielten bis an den Rand gefüllte Schnapsgläser in der Hand.
»Ach«, rief der Bürgermeister, »da kommt ja Besuch. Ein hübscher Käfer. Bist du nicht oben vom Quellenhof?« Ohne auf eine Antwort zu warten, redete er gleich weiter. »Lauter gute Nachrichten heute. Du kannst Frau Czech bestellen, die Schuhe sind angekommen. Unsere Bürodamen haben sich je ein Paar aussuchen dürfen. Aber keine Sorge, es sind so viele, dass es bei euch für alle reichen wird. Schöne feste Schuhe. Beuteschuhe aus Ungarn. Sie sind erstklassig verarbeitet. Aber viel erfreulicher ist etwas anderes.« Er forderte eine der Frauen auf: »Schenk dem Mädchen auch ein Gläschen Marillenlikör ein, Resi. Einen zum Aufwärmen.« Er hob sein Glas: »Auf unsere siegreichen Truppen in den Ardennen.«
»Bitte?«, fragte Lydia. »Worauf sollen wir trinken?«
»Hat es sich etwa
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