So weit die Wolken ziehen
kommen.«
Spät am Nachmittag fiel ihm ein, dass es höchste Zeit wurde, das Kostüm, die Bischofsmütze, den Stab und den gelben Umhang herauszulegen. Aber wo war das alles geblieben? Er bat Schwester Nora, sich darum zu kümmern. Die forschte nach, fragte die Kolleginnen und die Hauswirtin, ging jeder Vermutung nach und musste die Suche noch vor dem Abendessen endgültig aufgeben. Zwei Mädchen hätten ihr die Antwort geben können, doch die hüteten sich, zu bekennen, dass sie sich im letzten Karneval aus dem schönen Tuch des Nikolausgewandes Clownskostüme genäht hatten.
Wie jeden Abend kam Dr. Scholten pünktlich zum Abendbrot und setzte sich an den Lehrertisch. Sollte der Nikolaus diesmal nicht erscheinen? Aber selbst wenn Dr. Scholten nicht in Aktion treten würde, alle wären sehr verwundert gewesen, wenn nicht wenigstens Frau Zitzelshauser an diesem Abend eine Überraschung für sie vorbereitet hätte. Tatsächlich gelang es ihr, die Mädchen und das Kollegium zum Staunen zu bringen. Auf jedem Platz lag ein aus weißem Mehl gebackener, schön geformter Weckmann, so groß, dass selbst Herrn Nowotny ihn mit seinen Pfannenhänden nicht hätte bedecken können. Wo hatte sie nur das Weizenmehl für den Weckmann kaufen können? Wo hatte sie die Korinthen aufgetrieben, mit denen sie Augen und Mund, ja sogar eine Reihe von Knöpfen auf seinem Leib angedeutet hatte?
Frau Zitzelshauser kam in den Speisesaal, und bevor sie noch fragen konnte »Ob’s euch wohl mundet?«, klatschten das Kollegium und die Schülerinnen dankbar Beifall.
»Aber Kinder«, sagte sie bekümmert, »Kakao habe ich leider nicht kochen können. Wenn ihr später einmal erwachsen seid, besucht mich bitte um diese Jahreszeit. Ich verspreche euch, ich werde euch dann den leckersten Kakao anbieten, den ihr je getrunken habt.«
Ruth hatte tatsächlich das Gefühl, als würde sie das köstliche Getränk auf der Zunge schmecken. »Wir kommen bestimmt«, rief sie in den Saal.
Direktor Aumann lud Frau Zitzelshauser ein, gemeinsam mit ihnen den Abend zu verbringen und sich mit an den Lehrertisch zu setzen.
»Gern«, stimmte die Hauswirtin zu. »Aber beim Backen dieser Weckmänner haben mir Natascha und Galina tatkräftig geholfen. Ich hätte gern, wenn sie sich auch zu uns setzen dürften.«
»Das ist verboten«, sagte der Direktor. »Kein Deutscher darf mit diesen Leuten an einem Tisch sitzen.«
»Dann muss ich auf Ihr freundliches Angebot verzichten«, sagte Frau Zitzelshauser.
»Können wir nicht mal eine Ausnahme machen, Herr Direktor?«, fragte Frau Brüggen. »Ich glaube, ich spreche für alle Kolleginnen und Kollegen.« Die meisten nickten.
»Ich möchte mich der Stimme enthalten«, sagte Dr. Matheck. »Ich werde ohnedies nicht mehr lange hier sein.«
Diese merkwürdige Antwort gab allen Rätsel auf. Aber niemand fragte ihn, was das bedeuten sollte.
Frau Lötsche und zwei der neuen Lehrerinnen, Frau Hennig und Frau Weber, äußerten sich gar nicht.
»Wir rufen die Ukrainerinnen herein. Alles andere wäre ziemlich schäbig, oder?« Schwester Nora stand entschlossen auf, ging in die Küche und hatte die beiden Mädchen untergehakt, als sie wieder hereinkam.
»Bitte keine Verbrüderung«, mahnte der Direktor.
Natascha und Galina setzten sich verschüchtert an den Lehrertisch.
»Sie sind ja noch so jung«, sagte Frau Brüggen leise zu Frau Krase.
Kaum jemand hatte bemerkt, dass Dr. Scholten inzwischen den Raum verlassen hatte.
Plötzlich klopfte es hart an der Tür. Der Krampus, dachten viele. Aber es war nicht dieser Wüstling, der hereinkam, sondern … ja, wer eigentlich? Klar, es war Dr. Scholten. Er hatte sich eine Mütze aus Wolfsfell bis tief in die Stirn gezogen und trug seinen dunklen Mantel. In der Hand hielt er einen Stecken.
Bevor ihn die Mädchen fragen konnten, wer er denn nun sei, der Nikolaus sehe doch ganz anders aus, sagte er: »Ich bin, wie ihr seht, nicht der heilige Nikolaus. Der ist in diesem Jahr leider verhindert. Ihm kommen nämlich die Tränen, wenn er an diesen Krieg denkt. Aber er hat mich als seinen Boten geschickt. Dass ich auch ein Himmelsbote bin, könnt ihr an meinem Mantel erkennen. Der gehört nämlich einem Mönch, der jetzt, das glauben jedenfalls die Patres, im Himmel ist. Dass ich vom Nikolaus komme, seht ihr an meiner Wolfspelzmütze. Die stammt aus Russland, wo noch viele Wölfe hausen. Im alten Russland, ihr habt es vielleicht schon mal gehört, wurde der Nikolaus verehrt wie sonst kaum ein
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