So weit die Wolken ziehen
…«
Gegen sechs Uhr erlaubte Frau Krase, dass die Mädchen die Strafarbeiten beendeten. »Morgen nach dem Silentium geht es weiter«, sagte sie.
Anna bedankte sich bei Natascha. »Musst jeden Morgen draußen durch Schnee laufen. Ohne Schuh, ohne Strümpf. Auf Hof. Einmal rechts, einmal links. Dann bald gesund.«
»Und wer küsst mir dann die Füße?«
»Wenn du willst, mach ich das«, bot Lydia an.
Anna ging auf ihre Schwester zu. Sie streckte ihr die Hand entgegen. Obwohl sich etwas in Lydia gegen die Berührung sträubte, ergriff sie doch Annas Hand.
Von Anfang Dezember an hörte Dr. Scholten jeden Abend heimlich Radio BBC aus London, aber so leise, dass er sein Ohr nah an das Gerät halten musste.
Eines Abends betrat Schwester Nora noch spät sein Zimmer. »Otto«, flüsterte sie erschrocken, »bist du lebensmüde? Ich muss dir wohl nicht sagen, dass es streng verboten ist, einen Feindsender abzuhören. Wer dabei erwischt wird, muss mit harter Bestrafung rechnen. Und du schließt nicht einmal deine Tür ab, wenn du BBC einschaltest.«
Dr. Scholten antwortete: »Gewöhnlich klopft der Besucher an, bevor er eintritt.«
»Das habe ich gemacht. Aber du warst offensichtlich so vertieft, dass du es überhört hast.«
»Mag sein. Aber seit gestern wird gemeldet, dass die Russen mit starken Verbänden in Ungarn eine Großoffensive begonnen haben. Unsere Truppen müssen Stück für Stück zurückweichen. Weißt du, was das bedeutet, Nora? Sie sind uns schon sehr, sehr nahe.«
»Übertreibst du nicht wieder, Otto?«
»Komm jeden Abend um diese Zeit zu mir, Nora. Dann kannst du mit eigenen Ohren hören, was an den Fronten wirklich los ist. Ich verspreche dir, ich werde hinter dir den Schlüssel zweimal im Schloss umdrehen.«
»Was meinst du wohl, Otto, was das für ein Gerede im Haus auslösen würde. Onkel Otto hat was mit der Schwester. Alte Scheunen brennen gut, werden sie sagen.«
Dr. Scholten wurde verlegen.
»Stimmt«, sagte er. »Ich werde von heute an die Tür abschließen, bevor ich ins Radio krieche. Ich kann dir ja am nächsten Tag mitteilen, was unsere Nachrichten uns verschweigen.«
»Meinst du nicht, dass Radio BBC nur solche Meldungen bringt, die für die Alliierten günstig sind?«
»Wahrscheinlich. Aber ich werde die Nachrichten aus Deutschland und die aus London zusammenzählen und durch zwei teilen. Dann wird’s so ungefähr stimmen.«
»Man merkt, dass du Mathematik unterrichtest. Aber nicht alles lässt sich mit Adam Riese beantworten.«
»Woran denkst du, Nora?«
»An den Nikolausabend zum Beispiel. Wir dürfen doch hoffentlich morgen damit rechnen, dass du diesmal in die Rolle des heiligen Mannes schlüpfst, auch wenn dir nicht zum Feiern zumute ist, oder? Unsere Mädchen würden es bedauern, wenn der Abend vorüberginge wie jeder andere.«
»Mir steht wirklich nicht der Sinn danach. Aber es ist richtig, wir sollten nicht alles in trüben Gedanken versinken lassen. Ich werde es mir bis morgen überlegen.«
Dr. Scholten brütete an diesem Abend noch an dem Plan, einen Brandbrief nach Oberhausen zu schreiben. Er wollte darauf hinweisen, dass die Lage in Maria Quell von Woche zu Woche bedrohlicher würde. Es müsse überlegt werden, wann und wie das KLV-Lager aufgelöst und die Schülerinnen sicher zurückgeführt werden könnten. Vielleicht müssten Lkws geschickt werden, denn die Reichsbahn für eine so weite Strecke zu benutzen, das schien ihm unmöglich. Die übervollen Züge, die mögliche Zersplitterung der großen Gruppe, die Gefahr von Tieffliegerangriffen, wer konnte für ein solches Risiko die Verantwortung übernehmen? Auch überlegte er, welcher Adressat für einen solchen Brief infrage kommen könnte. Er hatte den Direktor angesprochen. »Sie sind ein notorischer Schwarzseher«, war die Antwort gewesen.
Schwester Nora wartete zunächst vergeblich auf Dr. Scholtens Entscheidung, ob er den Nikolaus spielen würde oder nicht. Beim Mittagessen sagte ausgerechnet Frau Lötsche, die eigentlich mit dem katholischen Spektakel gar nichts im Sinn hatte, sie sei gespannt, was der Nikolaus ihr am Abend für ein Geschenk bringen würde.
»Ich hab’s tatsächlich vergessen«, rief Dr. Scholten.
Die Mädchen horchten auf. Dr. Scholten hatte etwas vergessen? Er war doch ein wandelnder Terminkalender und hatte nie Verständnis, wenn seine Schülerinnen vergaßen, ihre Hausaufgaben zu machen.
»Also von mir aus«, sagte er. »Heute nach dem Abendessen wird der Nikolaus
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